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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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lachen.
    Ingrids Kabine befand sich direkt gegenüber; die Tür war nur angelehnt. Licht fiel durch den Spalt hindurch in den Gang, getragen von murmelnden Stimmen. Kirsten wollte einen Satz aus ihrer Kabine hinüber tun, die Tür aufreißen, aber ein Blick in den Spiegel ließ sie innehalten. Mit diesem Gesichtsausdruck durfte ihr Sohn sie nicht sehen. Mit der Fingerspitze berührte sie ihr Spiegelbild, die Stelle zwischen ihren Augen. Sie presste ihre Fingerkuppe so fest gegen das Glas, dass die Haut ihres Zeigefingers weiß wurde. Mit der Berührung kehrte ihr Atem zurück.
    Sie würde das Zerbrechen nicht akzeptieren.
    Der feuchte Abdruck ihres Fingers verharrte noch in der Mitte des Spiegels, als sie ihren Arm zurückzog. Sie kroch in ihr Bett, zog zitternd die Decke bis zum Kinn. Sie lauschte auf die Stimme ihres Sohnes, die immer leiser und seltener erklang, dazu Ingrids gleichmäßiges Murmeln. Kirsten war nicht sicher, wie weit die beiden sich verständigen konnten. Kristoffer hatte mit seinem Sohn ab und an Norwegisch gesprochen, allerdings immer bloß halbherzig, und mehr als ein paar Begriffe hatte Jonas nie aufgepickt. Kirsten selbst verstand wenig, aber ob man verstand oder nicht, eine Gutenachtgeschichte, um aufgeregt klopfende Herzen zu beruhigen, blieb eine Gutenachtgeschichte.
    Tim und jetzt auch Ingrid. Kirsten allein würde Jonas niemals so abschirmen können, wie diese Familie es erforderte. In dem Gedanken lag eine Lektion. Sie war nur noch nicht sicher, welche.
    Nach zwanzig Minuten war im Raum gegenüber alles still geworden. Nebenan brauste eine Dusche, in der Küche klapperte es sachte, ansonsten wanderte im Inneren der »Noorderlicht« niemand mehr herum; die Familienmitglieder hatten sich in ihre Kajüten zurückgezogen. Als Ingrid die Tür öffnete und einen schlafenden Jonas hereintrug, stand Kirsten vor dem Waschbecken und presste Zahnpasta aus der Tube.
    »Danke, Ingrid«, sagte sie schlicht.
    »Als ich hinunterkam, stand er im Schlafanzug in der Tür. Ich dachte, es wäre vielleicht gut, wenn er nicht zu euch hochkommt. Ich habe zwar nichts verstanden, aber es klang nicht nett, was zwischen euch gesprochen wurde.«
    »Was ist mit Fredrik? Hast du ihn, seit er nach unten gegangen ist, gesehen? Oder Monika?«
    »Keinen von beiden. Ich hoffe, sie schlafen.«
    »Mama, du hast mir nicht erzählt, dass ihr einen Eisbären gesehen habt!« Jonas war noch nicht ganz eingeschlafen. Während Kirsten die Decke um ihn feststopfte, blinzelte er sie vorwurfsvoll unter seinem Pony an.
    »Tut mir leid, Schatz, den Eisbär hatte ich ganz vergessen. Aber ich habe Fotos gemacht, warte, ich zeige sie dir.«
    Sie kramte in ihrem Rucksack nach der großen Kamera und schaltete auf Wiedergabe um.
    »Ist das Kristoffers Kamera?«, fragte Ingrid. »Die er fast in einer Eispfütze versenkt hätte?«
    Kirsten nickte. Jonas griff nach der Kamera und quietschte entzückt, obwohl der Bär auf den Bildern ein lediglich fingernagelgroßer Punkt in der Landschaft war. Erland hatte mit seinem Teleobjektiv sicherlich viel bessere Aufnahmen gemacht, aber seine Kamera wartete neben seinem steifgefrorenen Körper auf die Lebenden. Während Kirsten Jonas die Geschichte von der Eisbärensichtung erzählte, schloss Ingrid die Tür hinter sich und ließ sie und Jonas allein.
    Um zwanzig vor elf grübelte Kirsten noch immer darüber nach, ob Kristoffer Ingrid die Geschichte von seinem sommerlichen Ausflug zum Gletscher und seiner fast ins Schmelzwasser gefallenen Kamera erzählt hatte oder ob Ingrid dabei gewesen war. Ob sie daneben gestanden hatte, als es geschah, lachend angesichts der komischen Nummer, die Kristoffer bot. Der herausretuschierte Schatten an seiner Seite.
    Es gab keine Antwort auf diese Vermutung, solange Kirsten sie nicht einforderte. Morgen würde die Frage unter den anderen, drängenderen Verhören um Erlands Tod verblassen. Morgen würde sie als die kleinliche Nachforschung einer betrogenen Ehefrau betrachtet werden, der jegliches Gefühl für das Wesentliche abging. Heute Nacht jedoch gehörte die Frage noch ihr.
    Ingrid antwortete sofort auf Kirstens Klopfen. Kirsten glitt in die Kajüte, betätigte den Lichtschalter. Ingrid hatte sich auf die Ellenbogen gestützt, ins Licht blinzelnd, ein Bein halb aus dem Bett gestreckt, wohl in Erwartung der nächsten Katastrophe. Als sie Kirsten erkannte, zog sie das Bein zurück. Kirsten lehnte sich mit dem Rücken an die Tür, die hinter ihr ins Schloss fiel.

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