Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
mein Wachhund machtlos. Und das will etwas heißen.«
»Trotzdem haben Sie sich getraut, ihre Einladung zum exklusiven Kartenzirkel abzulehnen? Meine Hochachtung. Ich frage mich, was es mit dieser Doppelkopf-Runde wirklich auf sich hat. Sucht Gabriele Pallkötter die Nähe zu Ihnen und Kommissar Seeger, um sich Ihre Unterstützung zu sichern? Nur: Wofür?«
»Ich will nicht unhöflich sein, aber könnten Sie mich das außerhalb meiner Sprechzeiten fragen?« Wegner lächelte. »Im Moment kann ich Ihnen nur bei Dingen helfen, die in meinen Arbeitsbereich fallen.«
Pippa wurde rot. »Selbstverständlich. Bitte entschuldigen Sie. Frau Gerstenknecht schickt mich, ich soll ihre Tropfen holen. Sie wüssten schon, hat sie gesagt.«
Doktor Wegner durchsuchte den Stapel Patientenakten, der auf seinem Tisch lag, und zog Christabels heraus. Er seufzte. »Ich muss gar nicht nachsehen, um zu wissen, dass sie davon in letzter Zeit mehr nimmt, als gut ist. Ich vermute, die Situation macht ihr zu schaffen – wie allen anderen auch. Ich kann es einer Hundertjährigen aber schlecht verweigern, nachts zu schlafen, statt zu grübeln.«
Er holte einen Schlüssel aus der Schreibtischschublade, ging zu einem Schrank und schloss ihn auf. Ihm entnahm er ein Fläschchen, das er an Pippa weiterreichte. Das Etikett trug die Handschrift des alten Heinrich.
Auf Pippas erstaunten Blick hin sagte er: »Nur gemeinsam werden wir des Storchendreiecks Herr. Unsere Patienten gehen sonst zu uns beiden und nehmen alles doppelt ein. Durch die Zusammenarbeit behalten Heinrich und ich den Überblick. Gerade bei Patienten wie Christabel, die etwas zum Schlafen oder zur Beruhigung wollen. Solche Sachen gibt es nur bei mir.«
»Hopfenzapfen, Johanniskraut, Melissenblätter, Baldrianwurzel, Passionsblumenkraut, in Essig angesetzt«, las sie murmelnd vom Etikett ab, dann fragte sie: »Sonst nichts? Damit hält sie das alles durch? Wie schafft sie das? Wie bleibt sie so agil?«
Wegner zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung – aber irgendwas hält sie aufrecht. Und das sind weder Severin junior noch Julius Leneke. Denen könnte sie von ihrer Kraft noch einiges abgeben. Und das wissen die beiden auch.«
»Ich hoffe, ich mache wenigstens alles richtig. Ich achte darauf, dass sie gut schläft und richtig isst.«
»Das ist sehr gut, aber das war nie ihr eigentliches Problem.«
»Sondern?«
Wegner sah Pippa ernst an. »Christabel Gerstenknecht ist Alkoholikerin, seit fünfzehn Jahren trocken.«
»Das ist … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Christabel hat Julius Leneke damals in einer Entzugsklinik kennengelernt. Dort hat sie die Entscheidung getroffen, ihr Leben zu ändern, und das hat sie durchgezogen. Bis heute. Julius hatte leider nicht ihre erstaunliche Willenskraft.«
»Jetzt verstehe ich. Sie hat ihn vor drei Jahren adoptiert und dann hierhergeholt.«
»Der Beginn der Prohibition im Storchendreieck.«
»Zeitlich kommt das genau hin.« Sie stutzte. »Gibt es in Storchwinkel kein Arztgeheimnis, oder warum erzählen Sie das so freimütig?«
Wegner hob die Handflächen in einer Was-bleibt-mir-übrig?-Geste. »Weil Christabel es wollte. Und weil Sie aus diesem Grund hier sitzen.«
Kapitel 24
E s regnete nicht mehr, als Pippa die Praxis verließ. Hier und da war die Wolkendecke aufgerissen und gab den Blick auf einen zartblauen Himmel frei. Pippa atmete tief durch und genoss den erdigen, frischen Geruch der Landschaft. Vor Hildas Schaufenster standen zwei Leute, die auf den Monitor zeigten und dann das Café betraten.
Es würde die Storchwinkeler ablenken, wenn endlich ein Storch auftauchte, dachte Pippa, niemand kann eine Hiobsbotschaft nach der anderen ertragen. Oder wird das Drama irgendwann zur Normalität?
Wieder fielen ihr die Peschkes ein, ihre Nachbarn aus der Transvaalstraße 55, die jeden Abend pünktlich zu den Nachrichten ihr Abendessen verputzten, ohne sich stören zu lassen, wenn auf dem Bildschirm Bomben fielen oder Menschen vor den Küsten Europas ertranken.
Pippa seufzte. Das funktionierte vielleicht, solange man zu den Ereignissen keinen persönlichen Bezug hatte, aber in Storchwinkel waren die Veränderungen unübersehbar. Die Menschen bekamen Angst und verloren das Vertrauen zueinander, einige schlossen mittlerweile sogar ihre Haustüren ab.
Der fast menschenleere Bücherbus an der Haltestelle zeigte nur allzu deutlich, wie ernst die Lage war: Außer Florian, der sich gerade von Timo Albrecht verabschiedete und
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