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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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Buden ein Lachsbrötchen zu kaufen. Und auch Jonathan merkte plötzlich, wie hungrig er war. Außer den Schokoladenkeksen hatte er den ganzen Tag noch nichts gegessen.
    Der Hafenmeile war anzusehen, dass sie erst vor Kurzem angelegt worden war. Es gab einen gläsernen Pavillon mit Bistrotischchen, zwischen denen gut gekleidete Kellner herumflitzten, ein neues Touristenbüro und diverse Andenkenläden.Aber Jonathan entdeckte auch ein paar einfache Fischbuden und Würstchenstände, wie es sie früher gegeben hatte. Er bekam plötzlich Heißhunger auf eins der roten Pølser mit Röstzwiebeln und Remoulade, die an einer der Buden verkauft wurden. Eine Ewigkeit hatte er die nicht mehr gegessen.
    Ole’s oldfashioned Hotdog’s, rote Buchstaben auf weißem Blech, mit falschem Apostroph. Plötzlich schaute Jonathan genauer hin. Verdammt, den Typen, der da im fettigen T-Shirt hinter dem Tresen stand, den kannte er, auch wenn er jetzt neun Jahre älter und mindestens doppelt so viele Kilo schwerer war. Das war Ole Olsen. Instinktiv drehte sich Jonathan zur Seite, damit der Mann ihn nicht sehen konnte. Eine Reaktion, die überflüssig war, denn Ole war damit beschäftigt, dünne Gurkenscheibchen auf ein Würstchen zu drapieren, und selbst seinen konzentrierten Gesichtsausdruck erkannte Jonathan wieder. In diesem völlig unwichtigen Moment schloss sich für ihn der Kreis. Er hatte das Nuuk von damals wiedergefunden.
    Ohne darüber nachzudenken, was er tat, ging er zu der Bude hinüber und klopfte auf die Theke. »Ich nehme ein Bier«, sagte er auf Grönländisch und schaute dem Mann hinter der Verkaufstheke offen ins Gesicht. Seit er mit Shary auf dem Schiff die ersten Sätze gewechselt hatte, hatte er kein Kalaallisut mehr gesprochen, und wieder hatte er wie selbstverständlich die richtigen Wörter gefunden.
    »Import oder einheimisch?«, fragte der Mann zurück.
    »Einheimisch.«
    Den Blick unverwandt auf Oles Gesicht mit den wässerigen blauen Augen eines alten Mannes gerichtet, nahm er die Flasche Bier in Empfang, legte das Geld auf die Theke, grüßte kurz und ging neben Shary weiter die Hafenmeile entlang. Im Gehen trank er sein Bier, immer in der Erwartung, dass Ole ihn zurückrufen würde. Doch nichts geschah, Sekunde für Sekunde verstrich, Meter für Meter, und sie liefen unbehelligt an den Landungsbrücken vorbei, von wo die Schiffe nach Kanada ablegten. Auf einem der Schilder stand als Zielhafen New York und jemand hatte den Namen mit einem schwarzen Plastikband überklebt, so provisorisch, als ginge er davon aus, dass die Reederei jederzeit diese Route wieder anbieten würde. Jonathan lächelte bitter. New York war gestrichen.
    Nachdem sich Shary ihr Fischbrötchen gekauft hatte, setzten sie sich auf eine Bank. Shary lehnte sich mit dem Rücken an Jonathan, um ihr Bein seitlich auf der Bank ablegen zu können. Ihre Haare kitzelten seine Wange und er roch den Duft ihres Shampoos. Vom Meer her wehte eine kühle, salzige Brise und die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, der so intensiv blau war, als hätte ihn jemand nachcoloriert. Auf einmal fühlte er sich schwer wie nach einem zu langen Dauerlauf. Der Besuch auf dem Friedhof und selbst die flüchtige Begegnung mit Ole hatten ihn erschöpft. Wenn er sich jetzt nicht aufraffte, um den Rasmussenvej zu suchen, würde er heute bestimmt nicht mehr die Kraft dafür aufbringen.
    »Hör mal«, sagte er. »Ich wollte eigentlich jemanden besuchen. Deswegen bin ich hier, in Nuuk.«
    »Okay ...« Shary wartete ab, ob er weitersprechen würde.
    »Ich hab ihn lange nicht gesehen. Ich weiß nicht einmal, ob er noch dort lebt, wo er früher wohnte.«
    »Geh ruhig. Ich bleib hier einfach noch etwas sitzen. Ich finde schon alleine zurück.«
    »Du kannst gerne mitkommen ... wenn du willst.«
    »Wer ist es denn? Ein Freund von dir?«
    Jonathan schüttelte den Kopf, obwohl Shary ihn nicht sehen konnte. »Nein«, sagte er und sah einer Mücke zu, die sich auf seinen Handrücken setzte und zustach. »Ein Verwandter.« Er biss sich auf die Lippen. Oh Mann, wie schwer das war. Jedes einzelne Mosaiksteinchen seiner Geschichte wog eine Tonne. Mühsam riss er sich zusammen. »Genauer gesagt, mein Vater.«
    Eine halbe Minute war es still, bevor Shary etwas erwiderte. »Du bist abgehauen, nicht wahr? Zusammen mit diesem Pakkutaq, der ertrunken ist?«
    Jonathan antwortete nicht. Was sollte er auch sagen? Wie sollte er die richtigen Worte finden für das, was er noch niemals ausgesprochen

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