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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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hatte? Was er neun Jahre lang in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses geschoben hatte, um es zu vergessen, für immer und ewig.
    Shary setzte sich aufrecht hin und schaute aufs Wasser, wo die Fährschiffe am Kai lagen. »Du brauchst nicht drüber zu reden«, sagte sie. »Aber wenn du es ernst gemeint hast, komme ich mit.«
    »Also gut, dann gehen wir los.« Jonathan stand auf. »Er wird mir schon nicht den Kopf abreißen, der Alte.« Er versuchte zu lachen, doch es gelang ihm nicht.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
    Ich wollte mich bei Maalia entschuldigen, weil ich sie versetzt hatte. Aber es war gar nicht so einfach, an sie ranzukommen. Als ich den Krabbenschuppen betrat, saß sie schon zwischen Signe und einer älteren Frau am Fließband, und ich hockte mich wie immer zu Aqqaluk und seinem Bruder. In der Mittagspause ging ich mit den beiden zum Fjord, damit uns der Wind den Fischgeruch aus der Nase pusten konnte. Ich verteilte die abgelaufenen Fleischbällchen, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, und Aqqaluk reichte seine Bierflasche rum. Maalia und Signe saßen ein paar Meter weiter auf einem Felsen, aber sie kicherten und lachten so albern, dass mich keine zehn Schlittenhunde zu ihnen hätten ziehen können. Maalia schien es mir nicht übel genommen zu haben, dass ich sie versetzt hatte, aber ich wollte es trotzdem wieder gutmachen. Ich wollte ihr noch eine Chance geben. Nein, mir wollte ich eine Chance geben, wenn ich ehrlich war. Ich musste versuchen, sie direkt nach Feierabend zu erwischen, bevor sie zusammen mit Signe zu den Blocks verschwinden konnte.
    Doch als Sven kam und die Krabben auswog und unseren Ertrag in sein fleckiges Notizbuch eintrug, klappte es wieder nicht. Sven gab mir zu verstehen, dass er noch etwas mit mir besprechen wollte. Dreck! Hatte er mitbekommen, dass ich am Morgen wieder mal zu spät gekommenwar? Es konnte doch höchstens eine Viertelstunde gewesen sein.
    Sven bot mir eine Zigarette an, die ich aber dankend ablehnte. Ich rauchte nicht viel, und mit Fischfingern erst recht nicht.
    »Hör zu«, sagte er. »Ich hab schon ein paar Kilo abgepackt. Aber heute musst du sie mal zum Schiff bringen. Ich hab noch ein Geschäftsessen.« Er deutete mit dem Kinn in Richtung des Anlegers, wo die Alaska lag. Es war ein richtiges Ereignis, dieses schwimmende Luxushotel, denn es fuhr die Grönlandroute zum ersten Mal. Halb Nuuk war schon im Hafen gewesen, um sich das Ding anzuschauen. Mein Blick blieb einen Moment an dem strahlend weißen Kasten hängen, dann wanderte er weiter, Maalia und Signe hinterher, die Arm in Arm in Richtung ihres Wohnblocks aufbrachen.
    »Kann Anga das nicht machen?«, fragte ich.
    Sven runzelte seine gerötete Stirn. Sowie sich die Sonne wieder in Grönland blicken ließ, fing er sich auf seiner von blonden Löckchen umrandeten Halbglatze einen Sonnenbrand ein.
    »Ich hab dich gefragt und nicht Anga. Klar?«
    »Aber ich ...«
    Jetzt zog Sven die Augenbrauen zusammen, sodass ich den Rest meines Satzes hinunterschluckte.
    »Okay, okay. Ich mach’s ja.« Ich nahm die Styroporkiste vom Boden und ließ mir von Sven die Rechnung in die Jackentasche schieben.
    »Du meldest dich beim Küchenmanager, er heißt Grönemeyer. Seine Handynummer steht oben auf der Rechnung.Ruf ihn an, dann kommt er an die Gangway. Und frag ihn, wie viel Kilo er noch braucht, solange sie hier sind, und ob er auch Garnelen haben will. Das Geld bringst du anschließend sofort zu mir nach Hause. Klar?«
    »Ich dachte, du bist bei einem Geschäftsessen?«
    »Quatsch nicht so oberschlau. Tu einfach, was ich sage.« Jetzt sah Sven richtig wütend aus und sein rosafarbenes Gesicht wurde noch eine Spur röter. Fast als wäre ihm die Sache peinlich.
    Plötzlich kapierte ich, was los war. Sven schickte mich vor, weil auf dem Schiff niemand Dänisch sprach. Sein Englisch war hundsmiserabel, ich hatte ihn schon öfter radebrechen gehört. Und Deutsch konnte er natürlich erst recht nicht. Aber weil er nicht riskieren wollte, dass das Geschäft mit dem Luxusdampfer womöglich schieflief, weil er alles missverstand, schickte er mich unter einem falschen Vorwand los. Sven Kristiansen gab nie zu, dass er irgendetwas nicht konnte, schon gar nicht, wenn er es mit jemandem zu tun hatte, der ein halber Inuit war und aussah wie ein ganzer.
    Ich nickte ihm zu, drückte mir die schwere Kiste an den Bauch und wollte losgehen. Doch Sven hielt mich noch mal zurück. »Geh zu Hause vorbei, wasch dir die Hände und zieh

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