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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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Vielleicht hatte ich ja dadurch für ein paar Tage Ruhe vor seinen Honigträumen. Und wenn ich Glück hatte, vergaß er sie ganz vor lauter Krabben.

Nuuk, Grönland, Sommer 2020
    Jonathan hatte sich im Tourismusbüro am Hafen den Weg zum Haus seines Vaters beschreiben lassen und es dauerte keine zwanzig Minuten, dann hatte er den Rasmussenvej gefunden – zumindest das, was von ihm noch übrig geblieben war: das Straßenschild. Doch die Straße, in der er acht Jahre seines Lebens gewohnt hatte, suchte er vergeblich. Es gab sie nicht mehr. Dort, wo sich in seiner Kindheit der Weg mit den bunten Holzhäusern den Hügel hinaufgezogen hatte, befand sich jetzt eine Baustelle. Schief und verloren hing das Schild mit dem Namen Rasmussenvej am Rand eines gewaltigen Kahlschlags, der das felsige Land aufgerissen hatte. Ein Bagger hatte die roten, blauen und gelben Holzteile zu einem Haufen zusammengeschoben, wie die bunten Reste der Papierschlangen am Ende einer Geburtstagsparty. Auf einem Aushang am Bauzaun konnte man die modernen zweigeschossigen Apartmenthäuser begutachten, die hier demnächst entstehen sollten, alle mit Sauna und Solarium für den Winter. Jonathan starrte auf das Plakat und las gewissenhaft alle Einzelheiten, ohne sie zu verstehen. Er bekam gar nicht mit, dass Shary zu einem Felsbrocken humpelte, um sich hinzusetzen.
    »Die sind fast alle weg! Schon seit Wochen.« Die Stimme einer fremden Frau. Sie hatte ihn auf Kalaallitsut angesprochen.
    Wie ertappt zuckte Jonathan zusammen. Ein einsitziges Daylightmobil hatte ein paar Meter von ihm entfernt geparkt und eine junge Grönländerin war ausgestiegen.
    Er ging zu ihr hinüber. »Seit Wochen? Wissen Sie, wo die hin sind?«, fragte er.
    Sie sah ihn irritiert an, dann lächelte sie. »Ich meinte die Apartments«, sagte sie, wobei sie zu Dänisch übergegangen war, weil sie wohl seine ungeschliffene Sprache bemerkt hatte. »Sie müssten sich schnell entscheiden, falls Sie sich dafür interessieren.« Sie schaute zu Shary hinüber und lächelte wieder. »Die Wohnungen sind ideal für junge Familien.«
    Jonathan schien ihre Bemerkung nicht gehört zu haben. Er ließ den Blick über die Baustelle schweifen. »Die Bewohner, die Leute, die hier vorher gewohnt haben, wo sind die hingezogen?«
    »Ich bin die Architektin. Ich habe keine Ahnung, wer hier mal gewohnt hat.« Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß nur, dass es einige Proteste gegeben hat.«
    »Was für Proteste?«
    »Von der Traditionsbewegung. Sie wollten die Siedlung erhalten. Typisch grönländische Bebauung, verstehen Sie?« Jetzt lachte sie offen und ohne Bosheit. »Ich meine, das waren hier schließlich nur ein paar unscheinbare Häuser und keine Iglus, nicht wahr?«
    »Nein, sicher nicht.«
    »Also, wenn Sie Interesse haben ...« Sie wollte ihre Aktenmappe öffnen, doch Jonathan schüttelte den Kopf.
    »Danke, eher nicht. Auf Wiedersehen.« Er nickte ihr zuund ließ sie stehen. Er ging zu Shary hinüber, die das Gespräch neugierig verfolgt hatte.
    Während sie in ihren Wagen stieg, drehte sich die Architektin noch einmal zu ihnen um. »Warten Sie! Wenn Sie jemanden suchen, der hier gelebt hat, sollten Sie im Büro der Traditionsbewegung nachfragen. Vielleicht wissen die etwas. Es liegt direkt gegenüber der Erlöserkirche. Sie können es nicht übersehen.«
    Jonathan und Shary sahen der Frau nach, bis sie in ihrem eleganten Einsitzer von der Baustelle rollte.
    »Bist du sehr enttäuscht?«, fragte Shary.
    Jonathan zuckte die Schultern. »Weiß nicht ...«
    Shary kickte mit der Krücke einen Kieselstein weg und ließ ihn in die Baugrube rollen. »Und jetzt? Willst du zu diesem Traditionsverein?«
    Jonathan schaute auf seine Uhr. Es war erst vier Uhr nachmittags, aber er wusste, dass er für heute genug hatte. Er wollte nur noch ins Hotel. Vorher ein paar Sandwiches und eine Flasche Bier kaufen und dann einfach nichts mehr hören und sehen von Grönland. Es lagen noch zwölf lange Tage vor ihm, bis die Alaska wieder in Nuuk anlegte. Zwölf Tage, in denen die Sonne selbst nachts nur für kurze Zeit untergehen würde, das Einzige, was sich kein Jota geändert hatte. Genügend Zeit also, seine Mission zu erfüllen, worin auch immer sie bestehen mochte.
    »Was ist eigentlich los? Was ist mit deinem Vater?«
    Statt einer Antwort stand Jonathan auf. »Komm. Ich bring dich zur Pension«, sagte er, ohne Shary anzusehen. Plötzlich waren ihm diese Frau, ihr forschender Blick und ihre ewigen Fragen ein

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