Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
Vom Netzwerk:
Kopf kreiste nichts anderes als ein seltsamer Satz, von dem ich nicht wusste, woher er kam. Auch den Staub aus eurer Stadt, der sich an unsere Füße gehängt hat, schütteln wir ab auf euch . Auch den Staub aus eurer Stadt ... Wortlos stellte ich die Kiste in den Wagen, kletterte hinterher, stieg hinein und zog die Knie dicht an den Körper. Es passte genau. Bevor Aqqaluk und Maalia den Deckel auf die Kiste drückten, schaute ich noch einmal zum Himmel. Das Nordlicht war verweht und stattdessen flimmerten die unzähligen Sterne. Dann sah ich nichts mehr, um mich herum war es schwarz und stickig und es stank nach Blut. Dies ist mein Sarg, dachte ich. Und auf einmal fiel es mir wieder ein, wo ich den merkwürdigen Satz über den Staub gehört hatte. Der Pfarrer hatte ihn gesprochen, auf der Beerdigung einer Klassenkameradin, diein unserem letzten Schuljahr nach einer Party an ihrem Erbrochenen erstickt war. Ein Schauer lief mir über den Rücken und es kostete mich all meine Kraft, nicht nach Aqqaluk und Maalia zu brüllen. Ihre gedämpften Stimmen klangen weit entfernt.

Südwestküste Grönlands, Sommer 2020
    Jonathan hatte immer noch einen galligen Geschmack im Mund, als sie die letzte der schweren Kisten mit der Sackkarre an Bord hievten. Und so nahm er dankbar das Carlsberg an, das Fridjof ihm anbot. Während er trank, entdeckte er einen Typen, der ein paar Meter entfernt auf einer Rolle Tau saß und rauchte. Offenbar hatte er ihnen bei der Arbeit zugeschaut.
    »Was ist mit dem?«, fragte Jonathan Fridjof. »Warum hat der dir nicht geholfen?«
    »Bandscheibenvorfall«, antwortete der Kapitän auf Dänisch. Dann wechselte er wieder ins Grönländische. »Hol mal deine Sachen. Wir fahren in einer halben Stunde.«
    Jonathan reagierte nicht. Die Müdigkeit in seinen Muskeln schien auch sein Hirn lahmzulegen. Seine Gedanken hatten sich bei der Frage aufgehängt, ob es auf Kalaallisut vielleicht kein Wort für Bandscheibenvorfall gab. Vielleicht bekamen die Inuit so was normalerweise nicht.
    »Nun beweg dich mal.« Fridjof stupste ihn an. Er nahm ihm die leere Bierflasche ab und warf sie über Bord. Jonathan sah ihr zu, wie sie zwischen Schiffswand und Kaimauer im Wasser dümpelte. Seine Assoziationen waren über ein paar Brücken hinweg zu Shary gesprungen. Shary mit ihrem Hinkefuß. Was sollte sie hier alleine in Nuuk, wo sie kaum etwas unternehmen konnte? Er könnteFridjof fragen, ob er sie mitnehmen durfte auf diese Tour. Plötzlich sehnte er sich nach ihr, obwohl er sich nicht sicher war, ob er wirklich Shary meinte. Er sehnte sich nach einem Mädchen, einer Frau, nach jemandem, der ihm den Geschmack von Bier und Erbrochenem vertrieb und seine düsteren Gedanken bannte.
    Als er vorsichtig bei Fridjof anklopfte, zuckte dieser mit den Schultern. »Ist genug Platz«, meinte er. Und so rief Jonathan Shary an, die ihre Freude über seinen Vorschlag nicht im Geringsten zu verstecken versuchte. Sie zögerte keine Sekunde. »Ich packe schnell und nehme ein Taxi«, sagte sie. »Fahrt ja nicht ohne mich los!«
    Eine Dreiviertelstunde später legte die Ivalu mit Jonathan und Shary an Bord ab. So wie zwei Tage zuvor auf der Alaska lehnten sie an der Reling und schauten auf die Stadt, die jetzt wie in einem Film, den man zurückspulte, kleiner und kleiner wurde. »Das ist eine eigenartige Stadt«, sagte Shary. »Wie lange hast du hier gelebt?«
    Jonathan antwortete nicht. Er kannte Shary mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie ihm seine Verschlossenheit nicht übel nahm. Aber er umschloss ihre Hand, die trotz des kühlen Winds warm war, und steckte sie zusammen mit der seinen in die Tasche seiner Jacke.
    »Unser erster Stopp wird in Paamiut sein«, sagte er, »das sind ungefähr 170 Kilometer von hier. Wir sind bestimmt da, bevor es Abend wird.«
    Eine ganze Weile standen sie wortlos nebeneinander und sahen zu, wie die graugrüne Küste an ihnen vorbeizog. Die Ivalu fuhr viel näher am Ufer entlang, als es die Alaska getan hatte. Erst jetzt nahm Jonathan die Windräderwahr, die die Häuser überragten. Sie waren nicht weiß, sondern in kunterbunten Mustern bemalt. Offenbar hatten die Grönländer ihre Begeisterung für Farben an den Flügeln und Masten der Anlagen ausgelassen.
    »Hast du deinen Vater gefunden?«, fragte Shary unvermittelt.
    Jonathan sah sie von der Seite an. Sie ließ nicht locker mit ihren Fragen. Sie legte ihren Kopf schief und blinzelte ihn an wie ein Kind, das etwas ausgefressen hat, sich aber

Weitere Kostenlose Bücher