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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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ich wollte mich bei dir melden, jeden Tag wollte ich es, doch ich habe es nicht geschafft. Ich habe es mir nicht erlaubt zurückzuschauen, weil ich all meine Kraft für das fremde Land und das fremde Leben gebraucht habe. Für diesen Irrweg, der da plötzlich zu meinem Weg geworden war. Du wärst der Einzige gewesen, dem ich alles erzählt hätte. Aber das, was auf diesem Schiff passiert ist, hat mich verstummen lassen. Mit niemandem habe ich darüber gesprochen, nie, zu keiner Zeit. Niemand wusste, wer ich wirklich war, und irgendwann habe ich es selbst kaum noch gewusst. Von dem Moment an, als ich im Hamburger Hafen die Alaska verließ, habe ich mich daran geklammert, Jonathan Querido zu sein, und du, Aqqaluk, hast nicht mehr zu meinem Leben gehört, sosehr ich dich auch gebraucht hätte. Alles hatte er schon hundertmal durchgespielt. Aber als ihm Aqqaluk plötzlich gegenüberstand, hatte Jonathan nur einen Gedanken: Er soll mich nicht Pakku nennen, nicht vor Shary.
    Noch ehe Aqqaluks Unglauben in so etwas wie Wiedersehensfreude umschlagen konnte, noch ehe er Zeit hatte, den Mund zu öffnen, glaubte Jonathan schon das eine kurze Wort zu hören, die zweite Silbe fragend nach obengezogen, er sah es durch die Luft schweben wie ein seltenes Insekt, das nicht einzufangen war. Pakku?
    Es musste etwas in Jonathans Augen aufgeblitzt sein, das sein Gegenüber davon abhielt, die zwei Silben auszusprechen. Oder fühlte Aqqaluk etwa Scheu, diesen Namen zu nennen, den Namen eines Toten, der doch in einem Grab auf dem Friedhof von Nuuk lag?
    »Das gibt es nicht«, sagte Aqqaluk schließlich, als sie sich so nahe waren, dass sie einander hätten berühren können. Und dann tippte er tatsächlich mit dem Finger gegen Jonathans Brust.
    Jonathan antwortete leise und hastig. »Doch. Doch das gibt es, Aqqaluk. Ich bin es wirklich, aber ich habe einen anderen Namen, ich erkläre es dir später.« Er warf einen Blick zu Shary zurück, die an dem Tisch mit ihrem ausgelöffelten Eisbecher sitzen geblieben war und interessiert zu ihnen hinübersah. »Sie kennt mich als Jonathan.«
    Die Augen argwöhnisch auf sein Gegenüber gerichtet, als erwartete er, dass sich das Trugbild vor ihm gleich in Nichts auflösen würde, verschränkte Aqqaluk die Arme vor der Brust, so wie Jonathan es schon unzählige Male bei ihm gesehen hatte, die Fäuste hoch unter die Achseln geschoben. Nie war ihm diese Bewegung bewusst aufgefallen, doch jetzt, nach all den Jahren, erkannte er sie wieder wie eine vertraute Melodie. »Jonathan also«, sagte Aqqaluk, zuckte die Schultern und löste die Arme, als ergäbe er sich in ein Schicksal, das er nicht ändern konnte.
    Dann saßen sie sich gegenüber und die Kellnerin stellte ihnen auf ein Zeichen von Aqqaluk Whisky hin. Bevor Aqqaluk ihm Fragen stellen konnte, erzählte Jonathanvon der geänderten Kreuzfahrtroute, die ihn zufällig nach Grönland gebracht hatte, skizzierte sein Leben in Hamburg und dass er als Steinmetz arbeitete, aber hoffte, als Bildhauer leben zu können. Aqqaluk gab Anekdoten von seiner Arbeit als Restauranttester zum Besten, einer Arbeit, die offenbar nur aus Reisen, Freibier und Menüs auf Svens Kosten bestand. Sie redeten miteinander in dem höflichen Tonfall zweier Männer, die sich als Jungs einmal gekannt hatten und sich nun darüber austauschten, was aus ihnen geworden war. Nach einer Weile schmerzten Jonathan die Kiefermuskeln von dem eingefrorenen Lächeln, das er aufgesetzt hatte. Die Whiskys, die die Kellnerin ihnen brachte, trank er viel zu schnell, genau wie Aqqaluk.
    »Ich kann keinen Fisch mehr sehen. Aber zum Glück gibt es ja Whisky, mit dem man das Zeug runterspülen kann!« Aqqaluk hob lachend sein Glas. Shary, die neben ihm saß, lachte mit. Sie spürte offenbar nicht, wie unecht dieses Lachen war, wie nervös und unsicher, und sie schien auch die fragenden Blicke nicht zu bemerken, die Aqqaluk Jonathan immer wieder zuwarf. In dem gedämpften Licht des Restaurants sah Aqqa nicht viel anders aus, als Jonathan ihn in Erinnerung hatte, jungenhaft und scheinbar bestens gelaunt, und er selbst kam sich viel älter vor.
    Je länger sie an dem Tischchen saßen und redeten, desto absurder wurde dieser Abend für Jonathan. Eine ähnliche Situation, in der alles auf eine absurde Art falsch lief, hatte er schon einmal durchlitten, mit einer Freundin, in einem Restaurant am Hamburger Hafen, als sieihm mitteilte, dass sie ihn verlassen würde, während er mit Sorgfalt seine Seezunge

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