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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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Eisschollen gegeben, die der Polarstrom die Küste entlanggetrieben hatte. Aber heute war das Meer eisfrei. Neugierig schaute Jonathan zum Ort. Er schien sich längst nicht so wie Nuuk verändert zu haben. Abgesehen von einigen wenigen Neubauten sah er immer noch wie ein beschauliches Fischerdorf aus. Plötzlich konnte sich Jonathan nicht vorstellen, dass sein Vater in diesem Nest hängen geblieben sein sollte.
    »Ich bin kurz vorm Verhungern«, sagte Shary, als sie anlegten. »Meinst du, wir finden noch ein Lokal, das aufhat?« Sie hatte schon ihren Rucksack geschultert.
    Jonathan sah fragend von Fridjof zu den verbleibenden zwei Kisten. Der Kapitän gab ihm ein Zeichen zu verschwinden. Dankbar schulterte Jonathan seine beiden Reisetaschen und verließ hinter Shary die Ivalu.
    In der Nähe des Hafens entdeckten sie ein billiges Hotel, wo sie nur kurz ihr Gepäck abstellten, um dann essen zu gehen.
    »Es gibt ein gutes Fischrestaurant«, sagte die Hotelbesitzerin, »da kriegt ihr bestimmt noch was.«
    Das Restaurant, das sie meinte, schien eines von der besseren Sorte zu sein. Es hatte weiß gedeckte Tische und einen goldenen Fisch über der Tür. Jonathan stutzte. Das musste eines von Sven Kristiansens Fischrestaurants sein, von denen Anga ihm erzählt hatte. Er war sich nicht sicher, ob er ausgerechnet dort hingehen wollte. Doch Sven besaß mehrere Lokale; warum sollte er gerade jetzt in Nanortalik sein? Jonathan konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit eigenen Augen zu sehen, was sich Sven in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte. Und so drückte er die Klinke hinunter und betrat mit Shary das Lokal. Neugierig schaute er sich um.
    Sie standen in einem hellen Raum mit einer Theke, hinter der eine beeindruckende Batterie Alkoholika aufgereiht war. Die junge Grönländerin hinter dem Tresen nickte ihnen zu und deutete auf einen freien Tisch. Von Sven war nichts zu sehen. Jonathan schob Shary auf den Tisch zu, setzte sich mit dem Rücken zur Wand und entspannte sich ein wenig. Es war, wie er geahnt hatte: Der Chef war nicht da. Vermutlich hatten sich Svens Methoden nicht wesentlich geändert. Er kassierte den Gewinn, die Arbeit machten die anderen. Plötzlich kam ihm die Erinnerung an den eisigen Krabbenschuppen so deutlich, dass er den fischigen Gestank zu riechen glaubte.
    Shary bestellte die halbe Speisekarte, doch Jonathan hatte keinen großen Appetit, schon gar nicht auf Fisch. Er nahm lediglich einen Teller Spaghetti und ein großes Bier.
    Sie waren schon beim Nachtisch, als es ihm vorkam, als ob er beobachtet wurde. Er stellte seine Cappuccinotasseab und drehte den Kopf in die Richtung, aus der er den prüfenden Blick zu spüren glaubte. In dem Gang, der zu den Toiletten führte, stand ein Mann und schaute zu ihm hinüber. Ein stämmiger, muskulöser Mann in seinem Alter, braun gebrannt, mit dichten dunklen Haaren, in Jeans und weißem T-Shirt. Jonathan erkannte ihn mehr an seinem Gesichtsausdruck als an seinem Äußeren. Wie in Zeitlupe schüttelte der Mann den Kopf, mit einem ungläubigen, kindlichen Staunen im Blick, so wie er es früher gemacht hatte, wenn sein Freund Pakku irgendetwas getan hatte, das ihm übertrieben vorgekommen war.
    Jonathan erhob sich und stand da, als warte er auf das Stichwort eines Regisseurs, der ihm in seiner Unfähigkeit zu handeln weiterhalf. Ein paar Sekunden verstrichen, in denen die Zeit zurückzuspringen schien. Er sah einen Jungen vor sich, gerade siebzehn Jahre alt, seinen besten Kumpel, dessen weiches, offenes Gesicht ihm vertrauter war als jedes andere auf der Welt. Dann war das Bild verschwunden, er räusperte sich und ging auf den Mann zu, im selben Moment, in dem dieser ein paar Schritte auf ihn zu machte.
    »Aqqaluk.«
    Der Mann antwortete nicht. Wieder schüttelte er langsam den Kopf. In seinen schwarzen Augen las Jonathan eine Fassungslosigkeit, die über den Schreck des plötzlichen Wiedersehens hinausging. Und noch etwas erkannte er in Aqqaluks Gesicht, etwas, das sich ausbreitete wie der Schatten einer Wolke, die näher kam und alles verdüsterte.
    Er hat Angst vor mir, dachte Jonathan. Er braucht doch keine Angst zu haben.
    Unzählige Male hatte sich Jonathan diese Begegnung vorgestellt, seitdem er die Küste Grönlands hatte auftauchen sehen. Anders als bei dem Gedanken an das Wiedersehen mit seinem Vater, bei dem seine Fantasie versagte, hatte er Erklärungen formuliert, Selbstvorwürfe, Versuche der Rechtfertigung und der Abbitte. Glaub mir, Aqqaluk,

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