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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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entgrätete. Er hatte sich wortlos angehört, was sie zu sagen hatte. Als sie schließlich aufgestanden war, hatte er immer noch mit schmerzenden Kiefermuskeln gelächelt und sie hatte ihn beschimpft, dass es genau diese asiatische Gleichgültigkeit sei, diese grinsende Gefühlskälte, die sie so langweilte. Selbst dieser Moment, in dem sie ihm die Wahrheit sagte, war von Grund auf unwahr gewesen.
    Während Aqqaluks Züge durch den Alkohol weicher und schwammiger wurden, hatte Jonathan das Gefühl, dass sich sein Gesicht langsam auf einen Punkt zusammenzog, der zwischen seinen Augenbrauen saß. Wie eine Maske, an der jemand mit spitzen Fingern zerrte. Er rieb sich die Stirn, doch das Ziehen ließ nicht nach. Es gelang ihm nicht mehr, den Sinn von Aqqaluks Worten zu verstehen, die wie durch Wasser zu ihm drangen. Er fühlte sich betrunken und hilflos, und auch Aqqaluk kam ihm umso hilfloser vor, je lauter und aufgedrehter er sich gab.
    Wovor fürchtest du dich, Aqqa? Hast du Angst vor mir, weil du denkst, dass ich von den Toten auferstanden bin? Glaubst du wirklich an so was? Genau wie früher mischte sich in die Gewissheit, Aqqaluk zu durchschauen und zu kennen, ein dünnes, trauriges Gefühl von Fremdheit.
    Als die Kellnerin ihnen zu verstehen gab, dass sie das Restaurant schließen wollte, standen sie beide gleichzeitig auf, erleichtert, diesen Abend beenden zu können. »Das geht aufs Haus«, sagte Aqqaluk, noch bevor Jonathan seine Kreditkarte zücken konnte, und rannte fast zur Restauranttür.Jonathan legte Shary den Arm um die Schultern und versuchte, sich nicht an ihr festzuhalten.
    Aqqaluk übernachtete im selben Hotel wie Jonathan und Shary. Nebeneinander gingen sie durch das lautlose Nanortalik. Sie waren die Einzigen, die um diese Zeit noch auf der Straße waren.
    »Alle, die was auf dem Kasten haben, gehen nach Nuuk«, sagte Aqqaluk. »Hier bleiben nur noch die Alten zurück. Und ein paar verschrobene Lebenskünstler.«
    Jonathan fragte sich, ob Aqqaluk damit seinen Vater gemeint hatte. Aber erstens war Peter Wildhausen alles andere als einer, der mit dem Leben jonglierte, und zweitens strahlte Aqqas breites Gesicht nur eine trunkene Gutmütigkeit aus. Er hatte sicherlich keinen versteckten Hinweis geben wollen.
    Das Hotel war in einem der rostrot gestrichenen Holzhäuser untergebracht und war eigentlich eher eine Bar, über der sich im ersten Stock einige Gästezimmer befanden. Die Rezeption war nicht mehr besetzt, aber als sich Jonathan und Aqqaluk die Schlüssel von der Theke nahmen, hörten sie aus dem angrenzenden Kneipenraum noch Stimmen.
    »Ich gehe kurz mit Shary hoch«, sagte Jonathan. »Aber wenn du gleich noch ...« Er brach ab, verunsichert wie bei einem ersten Date.
    »Klar.« Aqqaluk wirbelte seinen Zimmerschlüssel um den Zeigefinger und ließ ihn in die Tasche seiner Lederjacke gleiten. »Klar«, antwortete er mit gespielter Lässigkeit, »ich warte an der Bar auf dich ... Jonathan.«

MS Alaska, Elbe, Frühjahr 2011
    Es war gar nicht so schwer, zu Jonathan Querido zu werden, denn auf eine seltsame Weise war es nicht ich, der das alles machte. Ich war außer mir, und von dort, wo ich war, beobachtete ich, wie ich den Jungen auf den Rücken drehte, ihm in das Gesicht mit dem offenen Mund und den aufgerissenen Augen starrte, ihm die Lippen und die Lider zudrückte, so wie ich es aus unzähligen Krimis kannte, ihn dann unter den Achseln packte, wo der Stoff seiner Uniform feucht vor Schweiß war, und ihn in Richtung des Lüftungsrohrs zerrte. Ich war in einen Film geraten, in einen Tatort oder so was, das war irgendwie komisch und ich hätte gerne gelacht. Aber ich wusste genau, dass es ein hysterisches Lachen werden würde, aus dem ich nicht mehr herausgefunden hätte, und deshalb unterdrückte ich es, sodass ich einen Schluckauf bekam.
    Dem Jungen rutschte etwas aus der Hosentasche. Ich nahm es vom Boden auf. Es war ein Mäppchen mit einer Bordkarte und einem Ausweis. Als ich mir das Foto darauf anschaute, schaute das Foto zurück, so als würde ich in einen kleinen rechteckigen Spiegel gucken. Jonathan Querido. Das war der Name, der zu diesem Gesicht gehörte, ein mädchenhaftes Gesicht mit missmutig schauenden Augen, umrahmt von ordentlich gekämmten Haaren mit Seitenscheitel, wie ich ihn mir auch gezogen hatte, als ich im Fotogeschäft in Nuuk mein Passfotohatte machen lassen. Jonathan Querido, ein guter Name.
    Ich handelte, ohne einen Entschluss gefasst zu haben. Ich zog den Jungen aus,

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