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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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erst die dunkelblaue Uniformjacke und das Hemd, vorsichtig, weil ich Angst hatte, ich könnte ihn stören. Ich konzentrierte mich und mein Schluckauf ging in einen schnellen, flachen Atem über. Der Junge lag ganz ruhig da, als wäre er mit allem einverstanden, und ich streifte ihm auch die Schuhe und die schwarze Stoffhose runter. Nur Strümpfe und Unterhose behielt er an. Ich hatte noch nie einen Menschen ausgezogen, noch nie die nackte Haut eines anderen unter meinen Händen gespürt, das feste weiche Fleisch der Arme, die Muskeln und die schweren Knochen der Oberschenkel, die Handgelenke mit den grünlichen Adern unter der bronzefarbenen Haut. Seine Haare knisterten, als ich ihm das Hemd über den Kopf zog, und ich strich sie ihm glatt. Dann zog ich mich selbst aus. Ich drehte mich von ihm weg, um nicht fast nackt vor ihm zu stehen, während er auf dem Boden lag mit dem Kopf auf meiner Daunenjacke, wie ein Mädchen, das auf mich wartete. Als ich seine Kleidung anzog, schien noch ein bisschen von der Wärme seines Körpers darin zu stecken. Ich nestelte ihm meine Sachen über, was gar nicht so einfach war, weil er nicht mithelfen konnte. Als ich es geschafft hatte, war ich schweißnass und das Hemd des Jungen klebte mir am Rücken. Es war ein weißes Oberhemd, wie ich es nur zur Schulabschlussfeier getragen hatte, aber es passte genau, ebenso wie die Hose und sogar die Schuhe. Der Junge war exakt so groß wie ich und auf dem Ausweis hatteich gesehen, dass er nur ein paar Wochen älter war. Jonathan Querido, geboren am 20. Dezember 1993 in Manila, Philippinen. Erst als ich mir Bordkarte und Ausweis in die Hosentasche schob, begriff ich wirklich, warum ich das alles gemacht hatte, begriff ich, was ich vorhatte. Wenn das Schiff in Hamburg anlegte, würde ich als Jonathan Querido von Bord gehen. Pakkutaq Wildhausen war tot.
    Ich wusste, was zu tun war, als hätte ich ein Drehbuch gelesen. Ich lehnte den Jungen mit dem Rücken gegen eine der Kisten und zog ihm auch noch meine Daunenjacke an. Auf dem beigen Stoff war ein rotbrauner Fleck, das war sein Blut. Der Fleck hatte die Form Grönlands, aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte. Ich öffnete vorsichtig die Tür, stellte fest, dass der hell erleuchtete Gang leer war, sah den Aufzug, der ein paar Meter entfernt war, packte den Jungen unter den Armen und schleppte ihn zum Aufzug hinüber.
    Plötzlich, während ich auf die Leuchtanzeige starrte und darauf wartete, dass der Lift kam, war meine Totenstarre vorbei und mein Herz raste vor Aufregung. Das Gewicht des Jungen lastete schwer auf mir und die verdammten Zahlen da oben brauchten ewig. Als die Türen endlich aufgingen, war mir schwindlig vor Angst. Ich zerrte den Jungen in die grell erleuchtete Kabine, presste ihn gegen die Rückwand, damit er nicht zu Boden sackte, drückte den Knopf fürs Oberdeck und durch einen Schleier hindurch sah ich, wie sich die Türen wieder zuschoben. Ich saß in der Falle. Das nächste Mal, wenn die Türen wieder aufgingen, würde ich irgendjemandem gegenüberstehen, ich, ein philippinischer Schiffsjungemit einer Leiche im Arm, deren schwarze Haare am Hinterkopf zu dicken Strähnen verklebt waren.
    Doch wir kamen am Oberdeck an, die Türen surrten auf und da war niemand, der auf den Lift wartete. Ich hörte Stimmen und Lachen und von irgendwoher Schritte, die mit einem grässlich schmatzenden Geräusch näher kamen, und ich schleppte den Jungen mit mir, auf eine Tür zu, von der ich nicht wusste, wohin sie führte. Es war eine Schwingtür, ich drückte sie mit dem Rücken auf, ich wollte nur weg von den Stimmen und den Schritten. Die Tür pendelte hinter mir, bis sie zur Ruhe kam, und ich zerrte den Jungen weiter. Wir waren auf einer Loggia, einem halb offenen Raum mit Liegestühlen und Palmen in großen Töpfen und mit Glasscheiben, die zur Seite geschoben waren, sodass die Luft vom Meer hereinströmte. Auch hier war niemand. Ich stand da, mit dem Jungen im Arm, und atmete die kühle, feuchte Luft ein und sah das graue Meer da draußen unter einem grauen Regenhimmel. In der Ferne trennte ein dunkler Strich das Wasser vom Himmel. Die Küste.
    Der Kopf des Jungen lag auf meiner Schulter, der Wind fuhr durch seine Haare, sie kitzelten meine Wange. Es waren nur ein paar Meter, bis wir an der offenen Schiebetür lehnten und der Nieselregen unsere Gesichter bestäubte. Unter uns, jenseits des metallenen Geländers, fiel das Schiff steil ab. Das Meer sah

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