Ins Nordlicht blicken
sein Whiskyglas zwischen den Fingern. Er wirkte angespannt und auf eine mürrische Weise ungeduldig. Obwohl er schon sehr betrunken sein musste, schien er hellwach zu sein.
»Seit wann trinkst du Whisky?« Jonathan schob sich auf den Hocker neben Aqqaluk. Er hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, da war ihm bewusst, wie lächerlich diese Frage war. Sie hatten sich neun Jahre nicht gesehen. Er selbst hatte in dieser Zeit alles Mögliche an Alkohol in sich hineingekippt. Nur Wodka hatte er nicht mehr angefasst, seit er Grönland verlassen hatte. Der Anblick einer Wodkaflasche und erst recht der schwache süßliche Geruchhatten genügt, Bilder in ihm hochzuschwemmen, die er nicht hatte sehen wollen. Die einsamen Trinkgelage, die sein Vater in der Küche veranstaltet hatte, seine verschwommenen blauen Augen, in denen ein betrunkener Eifer leuchtete, die leeren Flaschen in einer Brugsentüte neben der Haustür. Das ganze Elend, dem er hatte entkommen wollen.
»Seitdem ich es mir leisten kann«, erwiderte Aqqaluk. In seinen Worten klang kein Stolz mit, sondern eher eine Spur ironische Bitterkeit.
»Und seit wann kannst du es dir leisten? Arbeitest du schon lange für Sven?«
Aqqaluk drehte sich zu Jonathan, während er gleichzeitig dem Barkeeper ein Zeichen gab, ihm ein Glas hinzustellen. »Ich dachte eigentlich, dass du jetzt mal dran bist, Erklärungen abzugeben, Pakkutaq.« Er sprach Jonathans Namen aus, als würde er einen Witz machen. »Oder soll ich dich weiterhin Jonathan nennen? Fällt mir ehrlich gestanden ziemlich schwer.«
»Das kann ich verstehen«, antwortete Jonathan. Er schob dem Barkeeper das Glas wieder zurück. Der Whisky, den er den ganzen Abend über getrunken hatte, brandete in ihm auf und er musste seine ganze Konzentration aufbringen, um die Übelkeit niederzukämpfen. Er musste sich zusammenreißen. Dies hier war seine letzte Chance, ehrlich zu Aqqaluk zu sein. Wenn er diesen Moment verstreichen ließ, würde er es niemals schaffen, ihm zu erzählen, was damals passiert war. Aqqaluk nicht, Shary nicht und auch nicht seinem Vater, wenn er ihn denn fand. Wenn er jetzt nicht den Mund aufbekam, dann wardiese ganze Grönlandreise nichts anderes als eine sentimentale, verlogene Kreuzfahrt, die zu nichts führte. Er atmete tief die abgestandene Luft der Hotelbar ein, doch noch ehe er den ersten Satz fand, mit dem er seine Geschichte hätte auffädeln können, kam ihm Aqqaluk zuvor.
»Du hattest eine wirklich schöne Beerdigung, weißt du das?« Er sah Jonathan lauernd an. Jonathan nahm wieder den bitteren Spott wahr, der nicht zu dem Aqqaluk passte, den er einmal gekannt hatte.
Er schüttelte den Kopf und Aqqaluk redete weiter. »Es waren alle da. Dein Vater natürlich, der gute alte Sven, Ingvar und die anderen Typen aus der Schule. Maalia ... Sogar meine Eltern sind gekommen. Anga hat mit seiner Band gespielt. Willst du wissen, was sie gespielt haben? Ich weiß es noch.«
»Nein.«
»Dein Vater ist danach völlig abgestürzt. Dein Tod hat ihn ziemlich mitgenommen, vor allem die Identifizierung deiner Leiche. Du musst übel ausgesehen haben, total aufgedunsen, weißt du? Er hat sicher gar nicht richtig hingeguckt.«
Jonathan spürte eine Kälte in sich aufsteigen, die ihn so nüchtern machte, dass er jedes Geräusch in der Bar überlaut hörte. Das Klirren der Gläser, die der Barkeeper ins Regal stellte. Die leise quakende Musik aus den Lautsprechern und Aqqaluks Atem, der schwer und betrunken klang.
»Es hat übrigens Wochen gedauert, bis du angeschwemmt wurdest, irgendwo an der Küste in Dänemark.Übler Zustand, wie gesagt. Kein Wunder, dass du dich nicht gemeldet hast.«
»Hör auf, Aqqaluk.« Jonathan hätte ihn am liebsten geschlagen.
»Was soll’s? Das ist Schnee von gestern.« Aqqaluk zog das Glas zu sich, das Jonathan nicht angerührt hatte.
Doch Jonathan nahm es ihm aus der Hand und schüttete den Whisky auf den Boden. »Hör auf, Aqqaluk!«, schrie er.
Aqqaluk legte einen Geldschein auf die Theke. »Du kannst mich mal ... Jonathan«, sagte er. Er ging zur Tür und riss sie so heftig auf, dass ein Schwall kalter Nachtluft in den stickigen Raum strömte. Ohne sich umzuschauen, ging er die Straße hinunter, die zum Fjord führte, leicht schwankend und mit bemüht festen Schritten wie ein Seemann. Jonathan stand in der Tür und sah ihm nach. Er erkannte den Gang wieder, als wäre die Zeit stehen geblieben. Unzählige Male hatte er Aqqaluk so weggehen sehen, wenn sie bei Ingvar
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