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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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kalt aus, aber ich wusste, dass es nicht so eisig sein konnte wie das Meer vor Nuuk. Ich lehnte den Jungen ans Geländer, packte ihn an den Hüften und stemmte ihn hoch. Ich sah ihm nach, wie er fiel, die flatternden schwarzen Haare, diebeige Daunenjacke, die ich zusammen mit Aqqaluk gekauft hatte, weil sie im Angebot gewesen war, die schwarze Jeans, in der mein Handy steckte und meine Brieftasche mit meinem Ausweis und mit dem Geld, das ich von Sven bekommen hatte. Ich sah mich selbst fallen, kopfüber ins Meer stürzen, Pakkutaq Wildhausen, siebzehn Jahre alt, Krabbenpuler in einem illegalen Fischschuppen, ein Junge ohne Zukunft.
    »Was stehst du da und träumst? Hast du nichts zu tun?«
    Ich drehte mich um. Vor mir stand ein Mann in einer Schiffsuniform, einer ähnlichen, wie ich selbst sie trug, nur dass seine Hose weiß war und nicht schwarz. Er herrschte mich an, aber sein Gesicht zeigte mir, dass er mich gar nicht wahrnahm, sondern nur meine Schiffsjungenkleidung. Er sah meine Angst nicht. Er fand mich nicht in meinem Versteck.
    »Schließ die Türen, es wird ja alles nass. Stell die Liegen zusammen und sieh zu, dass es hier sauber ist.«
    Er ließ mich zurück und ich schob die Glastüren zusammen, nahm die blau-weiß gestreiften Polster von den Liegen, stapelte sie ordentlich ins Regal, stapelte auch die Liegen übereinander. Ich tat es, weil es meine Arbeit war, die Arbeit eines philippinischen Jungen, der es gewohnt war zu tun, was man ihm sagte. In einem angrenzenden Kabuff fand ich Putzzeug. Ich wischte den Boden, bis er trocken war. Als die Tür geöffnet wurde, sah ich nicht hoch, sah nur die geputzten Marmorfliesen und die Beine der Frau, die den Raum betrat. Den Blick gesenkt, drückte ich mich an ihr vorbei. Mit dem Eimer und demFeudel in der Hand ging ich in die nächste Loggia und auch dort stellte ich die Liegen zusammen und wischte und wischte. Als ich fertig war, schüttete ich das schmutzige Wasser aus und fing noch einmal mit dem Wischen an, immer wieder tat ich das, ich wischte und schüttete und wischte und schüttete. Ein paarmal ging die Tür auf, aber jedes Mal brachten mein gebeugter Rücken und das dreckige Wasser die Leute dazu, sie wieder zu schließen.
    Das Nieseln draußen war in einen prasselnden Regen übergegangen, der gegen die Scheiben schlug und in Strömen an ihnen herunterlief. Die Küste sah verschwommen aus, als würde ich sie durch einen Tränenschleier sehen. Aber sie kam näher. Aus dem dunklen Strich wurden graublaue und schmutzig grüne Streifen, weiße Windradmasten ragten aus den verwaschenen Farben, Häuser waren zu erkennen. Ich schob eine der Glastüren auf und jetzt sah ich alles klar und fest umrissen. Wir waren auf der Elbe. Bald würden wir in Hamburg sein.
    Spider. Zum ersten Mal seit Tagen fiel mir diese verdammte Verabredung ein. Ich konnte dort nicht hingehen. Wie sollte das funktionieren? Selbst wenn ich es schaffen würde, von Bord zu kommen und rechtzeitig in diesem Café zu sein, wie sollte ich ihm gegenübertreten? Als wer sollte ich ihm gegenübertreten? Als der Junge aus Dannenberg, der mal ein Großstadtabenteuer erleben will, bevor er am Abend wieder nach Hause zurückfuhr? Ich ließ mir den Regen ins Gesicht klatschen, bis er mir in den Kragen der Uniform lief. Wer war ich denn eigentlich, wenn ich von Bord der Alaska ging? Ich wusste es nicht. Ich war in einer stinkenden Robbenfleischkiste ausGrönland abgehauen, ich hatte einen Jungen umgebracht, sein Hemd hatte sich mit meinem Angstschweiß vollgesogen, seine Uniform und sein Ausweis waren das Einzige, was ich noch besaß. Sein Name war jetzt mein Name. Das, was ich als Spiel mit Spider begonnen hatte, war auf eine entsetzliche Weise Wirklichkeit geworden. Ich war in das Leben eines anderen geschlüpft.

Nanortalik, Südspitze Grönlands, Sommer 2020
    Die Hotelbar erinnerte Jonathan an das Büro der Traditionsbewegung, in dem er Anga begegnet war. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Robbenjägern in Fellkleidung, im Regal hinter der Theke lehnten bunte Holzmasken zwischen den Schnapsflaschen und an der Decke war das Geschirr eines Hundeschlittens aufgespannt. Selbst die beiden Einheimischen, die stumm am anderen Ende der Bar hockten, sahen wie verstaubte Überbleibsel einer anderen Zeit aus. Sie hatten müde Gesichter und trugen Daunenwesten über ihren Wollpullovern, als hätten sie den Klimawandel in dieser schummrigen Kneipe verschlafen. Aqqaluk stand an der Bar und drehte

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