Ins Nordlicht blicken
schwarzen Köpfen vor mir vorbei starrte ich auf das helle Rechteck des Ausgangs, auf den wir uns Meter für Meter zuschoben, das Tor zur Freiheit. Dabei führte es direkt zur Passkontrolle.
Auf einmal ging es so schnell, dass ich keine Zeit mehr hatte, mir noch Schrecklicheres auszumalen. Ein weiterer Schalter wurde eröffnet, die Jungs hinter mir drängten mich auf den Counter zu, ich holte den Ausweis aus der Hosentasche, legte ihn in das Schiebefach, sah dem Beamten ins Gesicht, sah seinen musternden Blick, versuchte zu lächeln, während sich mein Magen zusammenkrampfte, sah, wie der Mann den Pass zurücklegte und ihn mir mit regungsloser Miene zuschob, nahm ihn an mich, steckte ihn in die Hosentasche und ging weiter.
Als ich den Terminal verließ, war ich Jonathan Querido. Ich war ein philippinischer Schiffsjunge in einer durchgeschwitzten, stinkenden Uniform. Ich lief an den Menschen vorbei, die genau wie in Nuuk zum Kai gekommen waren, um sich das Luxusschiff anzusehen, und niemand nahm mich zur Kenntnis. Der Boden unter mir schwankte, hinter meinen Schläfen dröhnte noch das Stampfen der Schiffsmotoren, in meinem leeren Magen brannte die Angst noch immer ätzend sauer.
Aber ich war nicht mehr auf der Alaska! Ich war in Hamburg, in Deutschland, ich war mittendrin. Jetzt hob ich den Kopf, zerrte an dem Kragen der Uniform, um mehr Luft zu bekommen, und nahm das Leben um mich herum wahr, als wäre ich aus einer langen Narkose erwacht. Die leuchtenden Schiffe im Hafen, die Restaurants und Cafés, hinter deren Scheiben die Menschen lachtenund redeten, Lichter, die auf dem Wasser tanzten, Häuser aus glänzenden, spiegelnden Steinen, das Rattern der Hochbahn, das Rauschen der Autoketten, ein Durcheinander aus Stimmen, betrunkenem Geschrei und der Musik aus den Hafenkneipen. Das alles drang auf mich ein und riss mich mit sich. Ich spürte die große Stadt um mich herum, die Millionen Menschen, die Straßen, die ins Unendliche führten. Ich konnte weiterlaufen, nach Dänemark, nach Frankreich, nach Griechenland, nach Indien oder China, es würde kein Ende geben. Die ganze Welt pulsierte durch mich hindurch und ließ mich zittern vor Erregung. Alles war möglich und alles konnte passieren. Ich hatte es geschafft! Ich war diesem Albtraum entkommen und niemand wusste, was in diesem Traum passiert war. Ich wollte nicht darüber nachdenken, welchen Preis ich für meine Freiheit bezahlt hatte. Aber die Tatsache, dass ich um ein Haar gescheitert wäre, ließ mir diese Freiheit umso kostbarer erscheinen. Ich lebte! Ich war siebzehn Jahre alt, nicht mehr auf einer Insel im ewigen Eis und ich lebte!
»Hast du mal ’nen Euro?« Ein Typ stand vor mir, ein stinkender alter Mann in einem Regenmantel, der mir einen Plastikbecher vor die Nase hielt. Er nuschelte so, dass ich ein paar Sekunden brauchte, um zu begreifen, was er von mir wollte. Ich wich zurück und schüttelte den Kopf. Doch der Alte griff nach meiner Jacke und zerrte wütend daran herum. »Du hast doch ’nen Euro, Kleiner«, sabberte er. Ich packte seinen dürren Unterarm, riss mich los und rannte weiter. Nein, verdammt noch mal, ich hatte keinen Euro, auch keine Kronen, ich hatte überhauptnichts. Alles, was ich vor vierundzwanzig Stunden noch besessen hatte, das viele Geld von Sven, mein Handy, alles lag auf dem Grund der Nordsee. Ich hatte alles versenkt, weil ich alles loswerden wollte. Ich war ein Idiot gewesen. Keinen Moment hatte ich darüber nachgedacht, was ich machen würde, wenn ich von der Alaska runterkam. Der Alte hatte meinen kurzen Höhenflug gestoppt und mich auf den steinharten Boden der Tatsachen geworfen.
Ich lehnte mich an ein gläsernes Werbeplakat, presste mir die Hände auf die Rippen und fühlte mein Herz hämmern. Das Glas an meinem Rücken, das ich durch die Jacke spürte, war kalt wie Eis, aber mein Gesicht und meine Hände glühten. Die Vorstellung, weiterzugehen und mich durch die Menschenmenge schieben zu müssen, drückte mir die Kehle zu. Doch irgendwie musste ich mich zu dem Schachcafé durchschlagen, zu Spider. Er wartete auf mich. Ich schaute auf die Turmuhr an den Landungsbrücken. Konnte ich es überhaupt noch rechtzeitig bis zu diesem Café schaffen, wo immer das auch sein mochte? Auf der Brücke schräg über mir rollte langsam eine Bahn vorbei, hinter den Fensterscheiben saßen die Menschen im warmen gelben Licht. Ich schaute zu ihnen hinauf und sie sahen unbeteiligt auf mich hinunter. Was sahen sie in mir? Einen armen
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