Insel aus Stein: Mittsommerglück (German Edition)
plötzlich, als wäre sie ungefragt in Dales Intimsphäre eingedrungen, und das erschien ihr schrecklich falsch. Mit einem Seufzen stützte sie die Ellbogen auf den Schreibtisch und barg das Gesicht in den Händen. Was sollte sie jetzt bloß tun? So wie der Roman jetzt war, konnte Dale ihn dem Verlag auf keinen Fall anbieten, nicht einmal dann, wenn er ihn jetzt auf der Stelle beendete. Aber wenn sie ihn überreden könnte, noch einmal an den ersten vierhundert Seiten anzuknüpfen und die Story von dort aus zu ihrem Happy End zu bringen … Doch wie sollte sie das anstellen? Und würde er überhaupt dazu bereit sein? Was, wenn ihre Annahme stimmte und seine verstorbene Frau für ihn in der Protagonistin des Romans weiterlebte? Dann würde er sich womöglich weigern, auf ihren Vorschlag einzugehen.
Aber versuchen musste sie es wenigstens. Es war die einzige Möglichkeit, die ganze Sache zu einem guten Ende zu bringen. Für sich, aber auch für Dale.
Tief in Gedanken versunken saß Dale am Strand und blickte hinaus auf die See. Der Himmel schien wie mit einem sanften Hauch von Kupfer überzogen. Die Sonne stand tief über dem Horizont, und das Meer war wie in Flammen getaucht. Wie oft hatte er seit Annikas Tod schon hier draußen gesessen und sich gefragt, wie es weitergehen sollte? Immer und immer wieder hatte er die Entscheidung hinausgezögert, doch diesmal blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ihr zu stellen.
Er dachte an Cassie, die jetzt wahrscheinlich im Schein seiner Schreibtischlampe das Manuskript durcharbeitete, das er bislang vor der Welt verborgen hatte. Was mochte sie von ihm denken? Und warum interessierte es ihn überhaupt?
Es irritierte ihn, dass Cassies Urteil ihm absolut nicht gleichgültig war. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, bedeutete es ihm ungleich mehr als das des Verlages. Warum, verstand er allerdings selbst nicht so genau. Cassie war attraktiv, keine Frage, aber war in seinem Herzen stets nicht nur Platz für eine einzige Frau?
Leise Schritte, die sich ihm vom Haus her näherten, rissen ihn aus seinen Gedanken. Als er sich umsah, erblickte er Cassie im roten Schein der Abenddämmerung. Seine Kehle wurde trocken, und sein Puls beschleunigte sich. Er atmete tief durch. “Ich fürchte, Sie sind nicht nur hergekommen, um gemeinsam mit mir den Sonnenuntergang zu genießen, oder?”
Lächelnd schüttelte Cassie den Kopf. “Nein, obwohl ich mir vorstellen kann, dass der Sonnenuntergang es durchaus wert wäre.”
“In der Tat, das ist er wirklich. Also, raus mit der Sprache: Was haben Sie mir zu sagen? Keine Angst, ich bin durchaus in der Lage, Kritik wegzustecken.”
“Nun, eigentlich bin ich auch nicht hier, um Sie zu kritisieren, Dale. Ich meine, Sie und ich, wir beide wissen, dass die letzten knapp fünfzehnhundert Seiten des Manuskriptes eigentlich überflüssig sind.”
Er nickte stumm, ohne sie anzusehen. Er wollte das Mitleid, das aus ihrem Blick sprechen musste, nicht sehen. Sie konnte nicht wissen, was in ihm vorgegangen war und immer noch in ihm vorging. Cassie hatte ja keine Ahnung, dass …
“Sie konnten den Roman nicht beenden, weil Sie Ihre Frau nicht noch einmal verlieren wollten, ist es nicht so? Anna ist Annika.”
Jetzt konnte Dale nicht anders, er musste sie einfach ansehen. Woher um Himmels willen wusste sie das? Ihm selbst war es schließlich erst vor kurzer Zeit klar geworden. Er blinzelte verblüfft. “Wie …”
“Sie fragen sich, wie ich davon wissen kann?” Cassie lächelte verlegen. “Malin hat mir vom Tod Ihrer Frau erzählt, und ich habe ihr Bild zufällig in Ihrer Schreibtischschublade entdeckt. Danach musste ich nur noch eins und eins zusammenzählen.”
“Ja, es stimmt.” Er senkte den Blick. “Aber diese Erkenntnis hilft uns jetzt wohl auch nicht weiter.”
“Das würde ich so nicht sagen. Es besteht immer noch die Möglichkeit, den Roman zu beenden. Sie müssen nur noch einmal dort anfangen, wo der rote Faden der Geschichte verloren geht.” Sie sah ihn an. “Sie brauchen Anna nicht, Dale. Ihre Frau wird auch ohne sie für immer in Ihrem Herzen weiterleben.”
Verstohlen rieb Dale sich über die Augen. Was Cassie gesagt hatte, hatte ihn tief berührt. Und hatte sie nicht sogar recht? Brauchte er Anna wirklich, um Annika nicht zu vergessen?
“Aber selbst wenn es so ist”, sagte er nach einer Weile leise, “es ist zu spät. Die Abgabefrist ist längst verstrichen, und der Verlag wartet garantiert nicht mehr so lange, bis ich es
Weitere Kostenlose Bücher