Insel der Freibeuter
ihm ein indianischer Diener.
Nachdem er den Besucher von Kopf bis Fuß gemu-
stert hatte, ließ er ihn in einen schattigen Innenhof eintreten, in dem ein Dutzend bunter Papageien
plapperte.
»Meister Isaias ist nicht da«, war alles, was er sagte. »Aber seine Schwester wird Euch empfangen.«
Kurz darauf erschien eine Frau mit dem blassesten Teint und den blondesten Haaren, die der Margariteno je gesehen hatte. Zwar war sie nicht unbedingt schön, doch mit ihrer Art zu sprechen und sich zu benehmen zog sie unweigerlich die Aufmerksamkeit
auf sich. Kein Zweifel: Sie war ein einzigartiges Geschöpf, das mit den Frauen der Karibik wenig
oder gar nichts gemein hatte.
Sie musterte den Neuankömmling mit einer merk-
würdigen Mischung aus Interesse und Mißfallen
angesichts seines unordentlichen Aussehens. Meister Isaias sei auf Reisen, wiederholte sie, doch auch ihre medizinischen Kenntnisse reichten aus, um jeder
Bitte zu entsprechen.
»Seit Jahren arbeite ich mit meinem Bruder zu-
sammen. Wie kann ich Euch helfen?«
Mit dieser Situation hatte der Junge nun überhaupt nicht gerechnet. Dabei verwirrte ihn weniger die
Tatsache, daß die Person, die er sprechen wollte, nicht anwesend war, sondern daß er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er sein Problem einer Frau
erklären sollte.
»Ich kann ja wiederkommen«, murmelte er schließ-
lich.
»Mein Bruder bleibt vielleicht noch länger fort«, lautete die unwirsche Antwort. »Wenn Ihr krank
seid, solltet Ihr mir lieber so schnell wie möglich sagen, was Euch fehlt.«
»Nein! Ich bin nicht krank«, beeilte sich der Junge mit der Antwort. »Es geht nicht um mich.«
»Um wen dann?«
Sebastian zögerte.
»Um einen Verwandten«, sagte er schließlich.
»Jemand, der schnelle Hilfe nötig hat.«
»Welche Symptome hat er?«
»Würmer.«
»Würmer?« entgegnete die seltsame Frau, ein we-
nig überrascht. »Was für Würmer? Doch nicht etwas sututus, oder?«
Jetzt war die Verblüffung auf Sebastiáns Seite.
Wieder einmal schaute er in die beunruhigenden und fast durchsichtigen Augen, bis er schließlich mit den Schultern zuckte.
»Keine Ahnung, was ein sututu ist.«
»Winzige Larven, die einige Urwaldfliegen auf der Rückenhaut ablegen. Lebt Euer Verwandter im Urwald?«
Der Margariteno schüttelte den Kopf.
»Auf dem Meer. Und es sind keine winzigen Lar-
ven, sondern große dicke Würmer, die am ganzen
Körper aus stinkenden Wunden kriechen… Einfach
widerlich!«
»Aha…!«
Die Frau setzte sich auf eine Steinbank, streckte den Arm aus, auf dem ein riesiger roter Papagei
Platz nahm. Mit einer Geste verwies sie ihren Besucher auf eine benachbarte Bank, blieb einen Augenblick stumm und dachte angestrengt darüber nach,
während sie den Kopf des Vogels streichelte, ob ihr solche Symptome schon einmal untergekommen
waren.
»Seltsam«, murmelte sie schließlich, als spräche sie mit sich selbst. »Sehr merkwürdig für einen Seemann.« Ratlos schüttelte sie den Kopf. »Wie alt ist er?«
»45 Jahre, vielleicht fünfzig. Genau weiß ich es
nicht.«
»Muß ja ein ziemlich entfernter Verwandter sein,
wenn Ihr nicht mal sein Alter wißt, doch das ist nicht mein Problem.« Sie blickte ihm so tief in die Augen, als wollte sie seine Gedanken lesen. »Ist er in Europa oder Westindien geboren?«
»In Europa.«
»Und wo dort?«
»Irgendwo im Norden…« lautete die zögerliche
Antwort Sebastiáns, der nicht zuviel verraten wollte.
»Wo genau, weiß ich nicht.«
Die Frau ließ den Papagei auf einen Ast flattern, musterte ihr Gegenüber erneut mit ihrem durchdrin-genden Blick und murmelte schließlich mit absoluter Ruhe, wobei sie ihn duzte:
»Ich hab allmählich den Verdacht, daß du zu einem jener Piratenschiffe gehörst, die oft die Küste heim-suchen. Oder schlimmer noch, zu einem Korsaren-
schiff. Doch das spielt keine Rolle. Was mich interessiert, sind die Patienten, nicht ihr Beruf…« Sie lächelte ein wenig, und ihr Lächeln war wirklich
sehr anziehend. »Pirat oder Korsar?«
»Pirat.«
»Besser so. Wenn ich ehrlich sein soll, die Schein-heiligkeit der Korsaren ist mir zuwider. Nun gut! Ich werde mich eingehend mit der Krankheit deines
>Verwandten< beschäftigen. Wann kann ich ihn sehen?«
Der Junge schüttelte heftig den Kopf.
»Unter keinen Umständen setzt der Kapitän einen
Fuß an Land. Wenn er die Wahl zwischen Galgen
und Würmern hat, zieht er die Würmer vor.«
»Abwarten«, lautete die ironische Antwort. »Wenn
die
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