Insel der Freibeuter
Dinge so sind, wie sie sind, wird ihm die Schlinge bald lieber sein.« Langsam stand sie auf, als wollte sie das Gespräch damit beenden. »Ich brauche
zwei Tage, um die Bücher zu konsultieren und zu
sehen, was sich machen läßt.«
»Und wer garantiert mir, daß bei meiner Rückkehr
nicht die Soldaten auf mich warten?«
Sein Gegenüber sah ihn abschätzig an, als könnte
sie es nicht fassen, daß jemand sie des Verrats für fähig hielt.
»Raquel Toledo«, antwortete sie schließlich ziem-
lich bitter. »Was du mir gesagt hast, ist so, als hättest du es einem Priester anvertraut. Zwar kann ich die nicht unbedingt leiden, doch ein Geheimnis können sie hüten. Genieß die Stadt, aber bitte unauffällig, und komm in zwei Tagen wieder.«
Sebastian Heredia zog ein scharfes Messer aus dem Gürtel, schnitt den Barsch auf, zeigte eine Handvoll schöner kichererbsengroßer Perlen vor und legte
fünf auf die Steinbank.
»Das ist Euer Vorschuß. Den Rest bekommt Ihr,
wenn der Kapitän geheilt ist.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich ihn heilen werde«, lautete die trockene Antwort. »Nur, daß ich es versuchen werde. Und jetzt ab mit dir.« Als der Junge schon fast am großen Portal angelangt war, rief sie ihn zurück und fügte hinzu: »Und das nächste Mal
kommst du bitte am Abend. Man muß ja nicht unbe-
dingt sehen, wie ein Pirat am hellichten Tage bei mir aus – und eingeht.« Sie zeigte ein schelmisches Lä-
cheln. »Obwohl du, ehrlich gesagt, eher wie ein Klo-sterschüler als wie ein Pirat ausschaust.«
Verwirrt bis gekränkt verließ der Margariteno das große Haus. Noch immer wußte er nicht so recht,
was in dem schattigen Innenhof voller krächzender Papageien geschehen war.
Er hatte erwartet, einem alten Juden mit langem
Bart und Hakennase zu begegnen, vielleicht so ei-
nem wie dem Ladino Samuel, dem Geldverleiher
von La Asuncion, den sein Vater mehr als einmal
hatte aufsuchen müssen, wenn die Perlenfischerei
nicht den erhofften Gewinn abwarf. Doch hier hatte er es mit einer beunruhigenden und überraschenden Frau zu tun, die ihr Leben lang auf eigenen Beinen gestanden hatte.
Abgesehen von den einfachen Dorfbewohnern von
Juan Griego hatte Sebastián Heredia nur mit den
fröhlichen und schamlosen Huren der »Winterquar-
tiere« zu tun gehabt. Und wenn er ehrlich war, muß-
te er zugeben, daß er sich nie hätte träumen lassen, daß eine Frau Bücher lesen, etwas von Medizin verstehen und so selbstbewußt sprechen könnte wie
Raquel Toledo.
Nicht die Tatsache, daß er eine Ärztin vor sich hatte, die ihn gleichzeitig anzog und abstieß, auch nicht ihr charmanter exotischer Akzent, sondern ihre nicht vorgeschützte, sondern tatsächliche Überlegenheit ließ den armen Perlenfischer aus Margarita, der zum Piraten geworden war, darüber nachdenken, welch
unergründliche Kluft zwischen seiner eigenen Welt und der eines so einzigartigen Geschöpfs bestand.
Er nahm auf einer Mauerböschung des weiten Pal-
menstrands Platz und fragte sich, ob jene Raquel
Toledo, Schwester eines konvertierten Juden und
selbst Jüdin, die zum Christentum übergetreten war, nicht in Wahrheit eine jener gefürchteten Hexen
war, von denen man sich an Bord der Jacare in den langen Mußestunden so viel erzählte.
Sie konnte lesen, glaubte nicht an Jesus, konnte ge-heimnisvolle Tränke gegen eklige Würmer zuberei-
ten und hatte darüber hinaus zwei beunruhigende
Augen und hellblondes, fast weißes Haar. Ohne
Zweifel konnte man sie viel eher als echte Hexe ansehen als all die anderen Geschöpfe, von denen der arme Junge in seinem kurzen Leben gehört hatte.
»Gefällt mir nicht«, murmelte er schließlich in sich hinein. »Gefällt mir überhaupt nicht.«
Längere Zeit hing er seinen Gedanken nach, bis ihn der Hunger packte und er sich ohne Hast auf die
breite Esplanade am Hafen begab. Dutzende Frauen
priesen dort mit lauter Stimme alle möglichen zubereiteten scharfen Speisen an, als hätte man in der unglaublichen Hitze der Stadt, in der sich kein Lüftchen regte, nicht schon genug geschwitzt.
Mit einem Beutel voller Geld und unendlicher
Neugier stürzte sich der Junge aus Margarita bald in den Schlund der heißesten, lebendigsten und pulsie-rendsten Stadt der Karibik. Sie war das Herz einer Neuen Welt und seit dem Niedergang von Santo
Domingo die inoffizielle Hauptstadt des Kontinents.
In Cartagena de Indias strömten nicht nur die
Reichtümer, sondern auch die überaus unterschiedlichen
Weitere Kostenlose Bücher