Insel der Freibeuter
Menschen aus allen Winkeln des spanischen
Weltreichs zusammen. Auf den weiten Plätzen und
in den beschaulichen Gassen liefen halbnackte In-
dianer mit Federschmuck herum, während elegante
Fräulein ihre zarte Haut mit riesigen, reich bestick-ten Sonnenschirmen schützten, die sie in einem
gleichmäßigen Rhythmus drehten.
Kapitäne in spanischem Sold, Seeleute, Schreiber, Pfarrer, Mönche, Händler, schwarze Sklaven, aufge-putzte Freudenmädchen, Mischlinge und Tagelöh-
ner: Vom Sonnenaufgang bis kurz nach Mittag war
es ein einziges Kommen und Gehen. Dann leerten
sich die Straßen wie durch Zauberhand, denn in der drückenden Hitze des frühen Nachmittags wagte
sich nicht einmal der mutigste Straßenköter in die pralle Sonne, die einem das Hirn wegschmolz.
Drei Stunden lang war die lebendigste Stadt der
Karibik wie ausgestorben. Zumindest schlief sie,
und unter den schattigen Kapokbäumen der Parkan-
lagen und Plätze schnarchten alle, die keinen geei-gneteren Platz für ihre wohlverdiente Siesta hatten finden können.
Wenn die Sonne schließlich die Palmen der Insel
Baru, welche die Bucht im Osten abschloß, zu streicheln begann, erwachte Cartagena in der ersten Bri-se des späten Nachmittags zu neuem Treiben, das
noch frenetischer war als in den ersten Morgenstunden.
Doch nun ging es viel vergnügter zu: Man lachte
und sang, flanierte am Strand, tändelte im Rhythmus der Trommeln, Gitarren und Rasseln, denn Cartagena de Indias war nicht nur eine hektische, sondern vor allem auch eine sinnliche Stadt, die wie keine andere zur Fleischeslust verführte.
Jede Gasse war eine eigene Welt, jeder kleine Platz ein Universum und jede Haustür eine Aufforderung
zum Abenteuer.
Frohgemut und voller Begeisterung stürzte sich Sebastian in diese verrückte Welt der koketten Abenteuer, eine fröhliche, rumselige Welt der Lieder. Ein wenig erstaunt war er schon, daß es da eine Stadt gab, die Piraten, Korsaren, Freibeuter und feindliche Truppen zu ignorieren schien, die vor ihrer Haustüre lauerten. Jeden Augenblick konnte Gewalt und Tod, Blut und Feuer, Verbrechen und Plünderung über
die fröhliche Nacht hereinbrechen, denn zu Lande
und zu Wasser gab es wohl keinen Räuber, der nicht davon träumte, sich die riesigen Schätze zu holen, die in den tiefsten Gewölben der Festung San Felipe schlummerten.
Jeden Abend riegelte man mit einer dicken und
schweren Kette die Einfahrt der Bucht ab. Kein
Schiff kam dann mehr durch, und ein halbes Dut-
zend schneller Schaluppen patrouillierte auf offener See, um beim Anblick eines feindlichen Schiffs sofort Alarm zu schlagen. Doch wußte man auch, daß
besagte Feinde gelegentlich die Stadt lieber umgingen, um die Einwohner Cartagenas mit einem An-
griff von der Landseite zu überraschen.
Trotzdem vertrauten die Cartagener felsenfest auf die überaus erprobte Uneinnehmbarkeit von Fort
San Felipe, dessen mächtige Tore sich schlössen,
wenn die Sonne den Horizont berührte, und dessen
hohen Mauern sich ab diesem Zeitpunkt unter An-
drohung der Todesstrafe niemand mehr nähern durf-
te.
»In San Felipe schießt man zuerst und ruft dann
>Halt<«, hieß es, und obwohl manch unschuldiger Trunkenbold im Kugelhagel der aufmerksamen
Wachposten sein Leben ausgehaucht hatte, waren
sich doch alle einig, einen so vernünftigen Brauch niemals abzuschaffen.
San Felipe schützte sie, und jeder Einwohner der
Stadt hatte die Verpflichtung, San Felipe zu schützen und zu respektieren.
Doch unten, an den Stränden, in den Gassen und
auf den Plätzen genügte eine gute Stimme, Rhyth-
mus im Blut oder eine Flasche Rum, um an einem
der unzähligen Feste teilzunehmen, mit denen man
an jeder Ecke die heiße Nacht durchfeierte.
Achtundvierzig wunderbare Stunden lang vergaß
Sebastián Heredia Matamoros vollständig, daß er
nur ein Pirat war, auf dessen Kopf ein Preis stand, und ein Junge, der darüber unglücklich war, daß ihn seine Mutter auf die schändlichste Art verraten hatte.
Achtundvierzig Stunden lang genoß er das neue Ge-
fühl, ein »normaler« Mann zu sein, ohne bittere
Vergangenheit, schwierige Gegenwart und unsichere Zukunft.
Achtundvierzig Stunden lang war er ein Fischer,
der seinen Gewinn großzügig teilte, die Sänger mit Rum bewirtete und den freizügigen Frauen bunte
Tücher verehrte.
Trotzdem ging ihm in diesen achtundvierzig Stun-
den die aufregende Frau mit den Augen aus Eis und dem strohblonden Haar so gut wie nicht aus
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