Insel der Freibeuter
traurigste Tag seines Lebens, denn obwohl er sich damit tröstete, daß er gar nicht anders konnte, fühlte er sich in gewisser Weise schuldig, daß er es zuließ, einen kranken und erledigten Mann in sein unausweichliches Verderben ziehen zu lassen.
Was konnte der arme, früh gealterte Mann auf
Margarita tun, wenn er die Insel überhaupt in seiner Nußschale erreichte?
Und wie würde er reagieren, wenn er feststellen
mußte, daß er in dem Haus, in das er zurückzukeh-
ren glaubte, nichts mehr von dem vorfinden würde, was er vor Jahren zurückgelassen hatte?
Die schmerzvolle Vergangenheit, die zu vergessen
er sich so oft bemüht hatte, kam Sebastián wieder ins Gedächtnis zurück, und wieder einmal mußte er sich fragen, was in all den Jahren aus seiner Mutter und seiner Schwester geworden war.
Ob sie wohl noch auf der Insel lebten?
Wahrscheinlich wohnten sie noch immer im Palast
des Gesandten der verabscheuten Casa de Contrata-
ción, die schon vor geraumer Zeit einen hohen Preis auf die gesamte Besatzung des tollkühnen Schiffs
ausgesetzt hatte, denn nur zu oft hatte die jacare die Casa um ihre wertvollen Waren erleichtert. Sebasti-
án schauderte schon bei dem Gedanken, was eines
Tages geschehen würde, wenn sein Vater auf den
Mann traf, der ihm auf so grausame Weise seine
Familie geraubt hatte, doch was würde erst passieren, wenn er auf seine Mutter traf?
Sebastián war nie ganz klar gewesen, wer der wah-
re Schuldige an dem Geschehenen war: der Mann,
der mit seinem Geld und seiner Macht die Frau des anderen verführt hatte, oder die Frau, die sich von dieser Macht und diesem Geld hatte verführen lassen und darüber hinaus noch ein unschuldiges Wesen
mit sich gerissen hatte, das noch nicht alt genug war, um selbst über sein Schicksal zu entscheiden.
Ein ums andere Mal rief er sich das Bild seines Vaters ins Gedächtnis, der wie ein Besessener Messer, Schwerter und Macheten schärfte, und er konnte
nicht vergessen, wie er ins Leere blickte. Es jagte ihm Angst ein, wenn er sich vorstellte, was passieren würde, wenn dieses gequälte Wesen auf die Menschen traf, die auf so grausame und schändliche
Weise seine friedliche Existenz vernichtet hatten.
Die Jacare war das schnellste Schiff, das in diesen Augenblicken auf den Meeren kreuzte, aber dennoch hatte der Junge den seltsamen Eindruck, als würde sie kaum von der Stelle kommen.
Er war an die karibische See gewohnt, auf der sich früher oder später eine ferne Küste abzeichnete oder Seevögel die Nähe des Landes ankündigten, doch
die Unendlichkeit jenes dunklen und toten Ozeans
mit seinen hohen Wellen und heulenden Winden
setzte ihm zu. Nicht weil er Angst vor dem Meer
hatte, sondern weil er sich Sorgen machte, vielleicht den Rückweg nicht mehr zu finden und für immer in einem Europa bleiben zu müssen, von dem er nur
Schlimmes gehört hatte.
Hunger und Ungerechtigkeit hatten seine Großel-
tern dazu bewogen, in der Neuen Welt die Möglich-
keiten zu suchen, die ihnen die alte Welt verweigerte. Und seit er denken konnte, hatte der Margariteno die fixe Idee, daß am anderen Ende des Ozeans nur ausgedörrte Länder lagen, deren Bewohner, gerissene Schelme, nur darauf aus waren, auf Kosten anderer zu leben.
Warum Kapitän Jack so sehr daran lag. in ein un-
barmherziges Land zurückzukehren, aus dem er
schon als Kind hatte fliehen müssen, um nicht Hungers zu sterben, konnte Sebastian niemals verstehen.
Doch verspürte er auch nicht die geringste Neugier, den Grund dafür herauszufinden, und als an einem
nebligen Morgen der Ausguck die Küste Englands
ankündigte, kam er nicht einmal auf den Gedanken, einige Meilen näher heranzusegeln, um einen Blick darauf zu werfen.
»Die Segel reffen und beidrehen!« befahl er un-
wirsch. »Diese Nacht bringen wir den Kapitän an
Land.«
Er aß mit ihm allein in der Achterkajüte. Der
Schotte schien einen schweren inneren Kampf aus-
zufechten. Natürlich hatte er den logischen Wunsch, als reicher Mann, der sich um seine Zukunft keine Sorgen zu machen brauchte, in seine Heimatstadt
Aberdeen zurückzukehren, andererseits erfüllte es ihn mit tiefer Trauer, sein Schiff und seine Lebensweise aufgeben zu müssen, die ihm so viele glückliche Jahre beschert hatten.
»Das Schlimmste daran ist, daß ich mich trotz meines vielen Geldes nie wieder so frei fühlen werde wie in der Zeit, als ich ein einfacher Pirat war. Nun werde ich mich wieder zum Sklaven dieses Geldes
machen,
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