Insel der Freibeuter
dreinblickenden Martin Prieto
schien die Anwesenheit des Ex-Gesandten der Casa
in gewisser Weise abzustoßen. Der Karibikexperte, der seine Lektionen auch mit geschlossenen Augen
hätte erteilen können, gab sich alle Mühe, seine immensen Kenntnisse einem Neuling einzutrichtern,
der kaum Steuer- von Backbord unterscheiden konn-
te, aber sehr wohl wußte, daß er um sein Leben lernte, und dessen graue Zellen sich daher alle Mühe
gaben, diesen riesigen Berg an Kenntnissen zu verarbeiten.
Wie viele Hunderte von Inseln, Inselchen und ge-
fährlichen Riffen es zwischen den Bahamas und
Tobago oder zwischen Tampico und Martinique gab,
wie groß Kuba war oder welche Winde und Strö-
mungen die Mona-Passage zwischen Puerto Rico
und Hispaniola je nach Jahreszeit beherrschten: Das alles waren Daten, die in wenigen Tagen kaum zu
behalten waren, und manchmal glaubte Don Her-
nando Pedrárias, daß ihm der Schädel platzte.
»Wie lange habt Ihr gebraucht, um dies alles zu
lernen?« fragte er Martin Prieto eines Nachts nach einer erschöpfenden Sitzung, die 15 Stunden gedau-ert hatte.
»Ich lerne noch immer«, lautete die ehrliche Ant-
wort eines Mannes, der dreißig Jahre seines Lebens dem Studium gewidmet hatte. »Noch heute fühle ich mich nicht in der Lage, innerhalb der Jungferninseln zu segeln, ohne bei Anbruch der Nacht beizudre-hen.«
»Wenn das so ist, was kann ich dann in zwei Wo-
chen lernen?«
Kein Wunder, daß er keine Antwort erhielt. Nicht
einmal der fähigste Schüler hätte sich in einer so kurzen Zeit mehr als nur einen flüchtigen Eindruck von den wahren Umrissen der Karibik oder den
Längen- und Breitengraden der großen Inseln ver-
schaffen können. Als Don Hernando Pedrárias daher schließlich in das Bordell von Candela Fierro zu-rückkehrte, war er fest davon überzeugt, nunmehr
noch weniger als vorher über diesen Winkel der
Welt zu wissen, in dem er lebte.
Als er dem Portugiesen gegenübertrat, bemühte er
sich dennoch, unverzagt zu wirken.
»Im Augenblick habe ich eine ziemlich klare Vor-
stellung davon, wie wir nach Tortuga kommen. Da-
nach werden wir weitersehen.«
Drei Tage später lichteten sie die Anker. Als sie durch die Dragon-Passage zwischen Trinidad und
dem Festland segelten, beschlich den Ex-Gesandten der Casa de Contratación der Verdacht, daß Joäo de Oliveira noch stark untertrieben hatte, als er den Zustand der Besatzung seines mächtigen Schiffs als
»prekär« bezeichnete.
Die 41 unterernährt wirkenden Männer waren mit
der schweren Takelage völlig überfordert, als sie in die heftigen Ozeanwinde gerieten. Unterdessen
mühte sich ein rachitischer Mann am Steuer, das
Schiff auf Kurs zu halten. Den übelriechenden Kapi-tän Tiradentes schien das alles aber nicht zu kratzen, sondern eher zu amüsieren. Nachdem er eine Prise
Koka ausgespuckt hatte, bellte er mit sichtlicher Ironie:
»Nur Mut, ihr Hurensöhne! Wenn wir jetzt auf die
Jacare stoßen, versenkt die uns mit ein paar Fürzen!«
Anschließend brach er in schallendes Gelächter
aus, als wäre die Tatsache, daß das mächtige Schiff jeden Augenblick auf die Riffe der Punta las Penas auflaufen konnte, für ihn nur ein amüsanter Witz.
Don Hernando Pedrárias konnte sich einen bitteren Blick auf den Bugspriet nicht verkneifen, während er sich vorstellte, wie sein Kopf wohl nach dem dritten Tag am Galgen aussehen würde.
»Verfluchte Celeste!« murmelte er immer wieder.
»Tausendmal verflucht sollst du sein!«
Kurz danach mußte er sich über die Reling beugen
und alles von sich geben, was er in den letzten Stunden zu sich genommen hatte. Danach zog er sich in seine enge Koje zurück. Es war ihm ziemlich egal
geworden, ob die Brigg plötzlich kentern und ihn für immer auf den Grund des Ozeans schicken würde.
Joáo de Oliveira entschloß sich klugerweise dazu, um Inseln und Riffe einen großen Bogen zu machen.
Er steuerte beharrlich einen Nordwestkurs und mied die Routen der Handels- und Piratenschiffe. Nur zu gut wußte er, daß er mit seiner spärlichen Besatzung einem Angriff wenig entgegenzusetzen hatte, egal, wie groß der Tiefgang und die Bewaffnung des Gegners war.
Unter keinen Umständen hätte der Kapitän dem
neuen Herrn der Botafumeiro gestanden, daß der
»prekäre« Zustand seiner Besatzung darauf zurück-
zuführen war, daß drei Viertel kurze Zeit zuvor am Dengue-Fieber gestorben waren. Nicht einmal der
verzweifeltste Mann hätte unter diesen Umständen
den Mut
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