Insel der Nyx: Insel der Nyx, Die Prophezeiung der Götter
war. Manchmal fragte sie sich, ob Makaio gegen ihre Feinde eine Chance hätte. Aber sie konnte es nicht einschätzen. Makaio schien es jedenfalls vorzuziehen, ihnen gar nicht erst zu begegnen.
Er redete nicht über die Götter, die vermutlich über die Insel herrschten, aber Eleni bemerkte auch so, dass er die Gestalten genauso fürchtete wie sie. Spätestens, wenn die Sonne am Nachmittag tiefer sank, fing er an, nach einem Unterschlupf zu suchen, in dem sie sich vor Einbruch der Dämmerung verkriechen konnten. Wenn sie dann später in ihrem Lager lagen und die Berge kreischten, als wollten sie auseinanderbrechen, während sich die Schatten über dem Dschungel sammelten, suchte seine Hand jedes Mal nach ihrer. Schließlich hielten sie sich Abend für Abend an den Händen und manchmal, wenn das Kreischen besonders gespenstisch erschien, wollte Eleni am liebsten noch näher zu ihm kriechen.
Am Morgen des vierten Tages konnte Eleni vor Ungeduld kaum noch an sich halten. Sie liefen inzwischen den sechsten Berg hinauf und von der Küste hatten sie noch keine Spur gesehen. Stattdessen wuchsen die Lianen in diesem Teil des Dschungels so dicht, dass Makaio immer wieder den Weg freischneiden musste. Doch irgendwann blieb er unvermittelt stehen und blickte auf eine der Schlingpflanzen, die einen Baum hinaufwucherte. Eleni wollte ihn am liebsten anstupsen und ihm sagen, dass sie weitermussten. Aber Makaio ließsich auf die Knie nieder und fing an, mit den Händen unter der Pflanze zu graben.
»Was tust du da?« Eleni fiel es schwer, die Ungeduld in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Makaio buddelte unbeirrt weiter. »Das ist Yams. Wenn wir die Wurzeln ausgraben, haben wir für die nächsten zwei bis drei Tage genug zu essen. Komm am besten her und hilf mir.«
Eleni kniete sich neben ihn und schaute sich von ihm ab, wie er den Humus unter der Pflanze mit den Fingern lockerte. Makaio hatte recht. Wenn sie diese Wurzeln essen konnten, mussten sie wenigstens nicht mehr jagen.
Doch bald schon stellte sich heraus, wie mühselig es war, die Yamswurzel auszugraben. Sie trafen zwar schnell auf einen dicken Wurzelstrang. Aber er wuchs senkrecht in die Erde hinein und wurde zudem von den Wurzeln anderer Pflanzen umschlungen.
Eleni wollte am liebsten vor sich hin fluchen – aber schließlich fiel ihr eine Frage ein, die ihr schon lange im Kopf herumspukte: »Was weißt du eigentlich über die Nyx, über die Göttin der Nacht?«
Makaio hielt im Graben inne. »Die Nyx? Du meinst, sie ist eine Göttin?«
Eleni sah ihn erstaunt an. »Na ja, also ehrlich gesagt: Philine hat es vermutet – und es gibt ein paar Hinweise, dass die griechischen Götter hier tatsächlich eine große Rolle spielen. Aber ...« Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher. Makaio lebte auf dieser Insel, er musste besser wissen, wer oder was diese Nyx war. »Was denkst du denn, was sie ist? Du hast von meinem Nachtblut gesprochen und von dieser Prophezeiung.«
Makaio blickte wieder auf die schwarze Yamswurzel und zuckte mit den Schultern. »Ich habe eigentlich nur das gesagt, wovon die Hesperiden seit Jahren reden. Sie sprechen voller Respekt von der Nyx und es klingt, als wäre sie das Oberhaupt dieser Insel. Aber was genau sie ist ...« Er zögerte, setzte von Neuem an und sprach schließlich mit leiser Stimme, als dürfte ihn niemand hören: »Ich denke, dass diese Kreaturen ... dass sie Geister sind – wie in meiner Heimat.«
Eleni atmete tief ein. Geister ... Wenn Philine ihr erklärt hätte, dass die Schatten Geister waren, hätte sie es wohl auch geglaubt. Geister ... Götter ... Die Menschen glaubten überall auf der Welt an unterschiedliche Mächte. Aber letztendlich, wenn es diese Mächte wirklich gab, müssten es dann nicht überall die gleichen sein? »Vielleicht sind Geister und Götter sich ja ziemlich ähnlich.« Eleni sprach ebenso leise wie Makaio. »Auf jeden Fall ist es ziemlich erstaunlich, wie gut das zusammenpasst, was Philine über die Nyx und ihre Nachfahren herausgefunden hat. Hast du schon mal von den griechischen Göttern gehört?«
Makaio runzelte die Stirn. »Nein«, erklärte er. »Ich habe schon von Göttern gehört, aber nicht von den griechischen.«
Eleni schwieg einen Moment, während sie weiter in dem feuchten Humus kratzte. Die Erde drückte sich immer tiefer unter ihre Fingernägel und hinterließ einen wunden Schmerz. Doch die Wurzel steckte noch immer so fest in der Erde, dass sie wohl noch eine Weile weitermachen
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