Insel der Nyx: Insel der Nyx, Die Prophezeiung der Götter
Menschen heilen.
Diese Göttin mochte die Angst beherrschen – aber Philine wusste, wie sich Freundschaft und Liebe anfühlten, wie sie sich unerbittlich um das Herz rankten, einen Menschen inihre zarten Schlingen einwickelten und ihn nicht mehr losließen. Sie dachte an Eleni, an ihren Vater ... und an Kimon. Sie fühlte die Ranken, die ihr eigenes Herz umschlossen, spürte die Kraft, die sie ihr gaben.
Die Göttin wollte ihre Seele in der Schwärze des Weltalls versenken! Es war die Göttin der Nacht, Herrscherin über Dunkelheit und Angst.
Doch sie hatte nicht nur den Tod, die Rache und das Schicksal geboren – auch der Schlaf war ihr Sohn, in dem die Menschen sich Nacht für Nacht erholten. Und sie war die Mutter von Philotes, der Göttin der Freundschaft und Zuneigung, und irgendwo zwischen rasenden Sternen und endloser Dunkelheit musste das Herz der dunklen Göttin schlagen. Ein Herz, das sich umranken und einwickeln ließ.
Diese Göttin, die Philines Seele verschlingen wollte, war zugleich ihre Großmutter. Ein Teil von ihr – und ein Teil der Mutter, nach der sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte. Philine wollte ihr zeigen, wie stark die Liebe sein konnte. Und noch während sie darüber nachdachte, wuchsen die Ranken aus ihrem Herzen, griffen nach den rasenden Sternen, rissen sie in der Wucht ihres Fluges entzwei und schlangen sich um die nächsten Sterne, bis sie den Sog allmählich bremsten. Immer langsamer zogen die Sterne an ihr vorbei, bis sie in der Dunkelheit zum Stillstand kamen. Von einem Moment auf den anderen waren die Ranken überall, wucherten von einem Stern zum anderen und umschlangen sie mit ihrem zarten Gewirr. Und schließlich trafen sie auf das, was sie suchten: Philine spürte es, das schlagende, uralte Herz einer Göttin, die ihre eigenen Gefühle schon lange vergessen hatte. Aber sie waren noch da, tief versteckt, der Ursprung von so vielem,was auf dieser Welt herrschte. Philines Ranke sponn sich um sie herum und hielt sie fest. Sie zeigte der Göttin, wer sie war: ihre Enkelin, ein Menschenkind vielleicht, aber auch ein Teil von ihr, der mit ihr in Liebe verbunden war.
Plötzlich zog die Schwärze davon, die Sterne zuckten ein letztes Mal und verschwanden, kurz bevor die Dunkelheit sie ausspuckte, zurück in die Höhle, zurück auf den Steinboden.
Die Göttin vor ihr sprang auf und wich nach hinten. Ein mächtiges, unmenschlich tiefes Lachen erfüllte die Höhle.
Die dunkle Göttin blickte von oben auf Philine herab. Auf einmal bewegte sie ihren Mund, ließ ihre dumpfe, grollende Stimme ertönen: »Weißt du, wer ich bin?«
Philine hielt dem Blick ihrer Großmutter stand. Sie hatte die Macht der Göttin besiegt, zumindest für diesen Moment. Doch es war gefährlich, jemanden zu besiegen, der große Macht besaß. Jetzt musste sie umso vorsichtiger sein, um nicht den Zorn der Göttin auf sich zu ziehen. »Du bist die Nyx«, erklärte sie freundlich, »die Göttin der Nacht, meine Großmutter.«
Wieder brach das Lachen der Göttin hervor, viel zu tief, um in diese Höhle hineinzupassen. Womöglich war dieses Lachen so groß, dass es um die ganze Welt hallte und sich mit der Schwärze der Nacht verband. Dieses Lachen musste der Grund sein, warum die Menschen sich seit Urzeiten vor der Nacht fürchteten.
Schließlich verstummte die Göttin, ein Vorhang aus schwarzen Haaren fiel über ihr Gesicht und gab ihr einen verschlagenen Ausdruck.
»Ist sie die Gesuchte?« Plötzlich mischte sich eine andereStimme ein, eine, die mit schwachen Stimmbändern vor sich hin krächzte.
Es war der Schatten, der sich in gebrechlicher Haltung über den Stock beugte. Auch er schob die Kapuze nach hinten und zeigte die weißen Haare und das schrumpelige Gesicht eines uralten Mannes.
Geras! Philines Gedanken ordneten ihn blitzschnell in das ein, was sie über die Nachtgötter wusste: Der Gott des hohen Alters. Von ihm stammten die Gebrechen, die alte Menschen quälten, aber auch die Weisheit, die sie besaßen.
»Sie ist stark« , sprach die Nyx weiter. »Es sind keine offensichtlichen Zeichen an ihr zu erkennen. Aber sie könnte es sein.« Mit diesen Worten wandte die Göttin sich ab und schob ihre Kapuze wieder über den Kopf. »Durchsucht sie! Überall! Durchsucht sie gründlich und mit allen Mitteln! Wenn sie es ist, dann wisst ihr, was zu tun ist ...« Im Höhleneingang drehte sich die Göttin noch einmal zu ihr um. Nur der Schatten ihrer Kapuzenöffnung schaute in Philines Richtung. Aber der
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