Insel der Nyx: Insel der Nyx, Die Prophezeiung der Götter
gebrauchen. Während sie zusammen die Stufen in die Schlucht hinabstiegen, atmete Eleni erleichtert auf. »Puh! Geschafft!« Sie grinste.
Philine betrachtete ihre Freundin von der Seite. Elenis Haut schien von der Sonne ziemlich schnell dunkler zu werden und ihre Zähne leuchteten im Kontrast dazu in einem perfekten Weiß. Ihre schwarzen Locken hatte Eleni zu einem wilden Knoten hochgebunden. Nur einzelne Strähnen fielen auf ihre Schultern und tanzten im Takt ihrer Schritte.
Eleni war das schönste Mädchen, das Philine kannte. Noch war alles an ihr so schmal und hochgewachsen, dass man ihre Figur fast mit der eines Jungen verwechseln könnte. Aber Philine ahnte bereits, dass sich auch diese Zeiten bald ändern würden. Schon seit Jahren versuchte sie herauszufinden, was der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen war, warum Kinder irgendwann aufhörten zu spielen und sich stattdessen von dem Ernst der Erwachsenen anstecken ließen. Und inzwischen ahnte sie, was es war.
Wann immer Philine durch das Dorf lief, spürte sie dieSpannungen, die zwischen den Erwachsenen in der Luft hingen. Liebe, Freundschaft und Eifersucht zogen sich wie ein Netz über das Dorf, das manche Menschen miteinander verstrickte und andere weit voneinander fernhielt. Bei Kindern bestand das Netz nur aus ein paar festen Fäden, die zu ihren Eltern führten, dazwischen waren bewegliche, dünne Fäden, die sich schnell bildeten, die schnell zerrissen und sich ebenso schnell wieder zusammenfügten. Bei ihnen war das Netz in ständiger Veränderung und gleichzeitig so leicht, dass sie sich frei darin bewegen konnten.
Aber das Netz der Erwachsenen war fester und schwerer. Es wob die Menschen ein und versuchte jedem von ihnen einen festen Platz zu geben. Viele Erwachsene fanden darin ihre Ruhe, ihre Familien, ihre Freunde – feste Fäden, auf die sie sich verließen.
Doch für diejenigen, die keine Kinder mehr waren und allmählich erwachsen wurden, schien das Netz eine heimtückische Falle zu sein. Leándra war so jemand, und die großen Jungen. Philine spürte, wie die Fäden ihres Netzes allmählich dicker wurden. Manchmal rebellierten die Jugendlichen dagegen und versuchten alle Fäden zu durchtrennen, die sich zu eng schnürten. Sie rissen und zerrten daran und brachten sie immer wieder zum Reißen – aber gleichzeitig suchten sie alle nach einem festen Platz in ihrem Netz und litten furchtbare Qualen, wenn einer der anderen einen Faden zerriss, auf den sie sich gerade verlassen hatten.
Philine ahnte, dass es nicht mehr lange dauern würde, ehe sich die festen Fäden auch nach Eleni und ihr ausstreckten. Wenn sie es genau überlegte, dann gab es bereits so einen festen Faden, der sie beide miteinander verband. Sehr schnellhatten sie ihn gesponnen und jetzt hingen sie daran und verließen sich darauf, dass der andere ihn nicht abschneiden würde.
Philine atmete tief ein. Auch das, was von der Insel zu ihnen herüberwucherte, fühlte sich an wie die Erwachsenenfäden: Es wollte sie fangen und einbinden.
Auf den Treppenstufen blieb sie stehen und schaute zu der Insel hinüber. Es war ein außergewöhnlich klarer Tag und die Höhenzüge der Insel waren rauchblau gefärbt.
»Was ist los?« Eleni drehte sich zu ihr um und blieb ebenfalls stehen. Sie folgte Philines Blick und starrte wie gebannt auf den Horizont.
Philine fröstelte. Während alle anderen ihre Netze innerhalb des Dorfes oder zumindest innerhalb der realen Welt knüpften, waren Eleni und sie tatsächlich bereit, sich von einer unsichtbaren Insel umgarnen zu lassen?
Was für ein verworrener Gedanke. Philine versuchte, ihn aus ihrem Kopf zu schütteln.
»Atlantis«, hauchte Eleni.
»Was?« Philine starrte ihre Freundin an. »Atlantis? Was meinst du damit?«
Eleni blickte wie paralysiert auf die Insel. »Vor Tausenden von Jahren ist eine Insel im Meer versunken. Wissenschaftler und Philosophen haben über sie geschrieben, und obwohl so viele Menschen nach ihr gesucht haben, weiß niemand, wo sie eigentlich war. Und jetzt taucht plötzlich eine Insel aus dem Meer auf, die vorher nicht existiert hat und die nur wir beide sehen können.« Eleni löste endlich ihren Blick und sah Philine an. »Stell dir mal vor, es gab immer nur ganz wenige Menschen, die Atlantis sehen konnten. Das sind genug, damitdie Menschheit von dieser Insel erfährt, aber es ist zu unglaubwürdig, um sie in eine Karte einzuzeichnen. Also haben sich die Menschen seit Urzeiten von diesem Mythos erzählt,
Weitere Kostenlose Bücher