Insel der Nyx: Insel der Nyx, Die Prophezeiung der Götter
zurückgewinnen. Erst jetzt fiel Eleni auf, dass er einen merkwürdigen Rock um seine Hüften trug. Der Stoff glitzerte wie die Schuppen seines Fischschwanzes. Hatte er sich ebenfalls mit der Verwandlung gebildet?
Der Junge stand auf und kam auf Eleni zu. »Ich habe versucht, euch zu warnen – aber alles an euch ist auffällig: eure Furcht, eure Fragen, euer Geruch!«
Eleni sprang hastig hoch.
Der Junge blieb direkt vor ihr stehen. »Niemand dringt unbemerkt in das Revier einer Nymphe ein, wenn er auch nur den leisesten Zweifel in seinem Herzen trägt.« Seine Mandelaugen blitzten. »Ihr müsst gehen! Jetzt! Und ihr dürft nicht mehr wiederkommen, hört ihr?«
Eleni nickte hastig. Sie betrachtete seine zusammengezogenen Augenbrauen, die schwarzen Augen, aus denen kleine Funken stoben, und die harte Linie, zu der sich sein Mund geformt hatte. Wie konnte jemand nur gleichzeitig so hübsch und so gefährlich aussehen?
Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Die Delfine! Sie sprangen durch das Meer auf sie zu.
Philine hatte sie ebenfalls gesehen und ließ sich bereits mit den Beinen voran ins Wasser gleiten.
Eleni wollte ihre Freundin nicht schon wieder allein lassen – sie musste ihr hinterherspringen.
Doch der Junge griff nach ihrem Arm und senkte die Stimme. »Du bist das Mädchen, vor dem sich alle so fürchten. Sprich niemals mit den Delfinen in Gegenwart der Hesperiden. Wenn sie diese Gabe an dir finden, werden sie dich töten.« Er hielt Eleni noch einen Moment lang fest. Sein Gesicht wurde sanfter und auf einmal erschien wieder der traurige Schimmer in seinen Mandelaugen.
Ein starkes Gefühl strömte durch Elenis Körper, etwas, das sich zugleich schön und schmerzhaft anfühlte und das ihr vollkommen neu war. War er ihr Feind oder ihr Freund? Wollte sie vor ihm weglaufen oder ihn zum Abschied umarmen?
»Wie heißt du?«, flüsterte sie.
Seine Hand an ihrem Arm wurde sanft. »Makaio.« Einflüchtiges Lächeln erhellte sein Gesicht. Seine Finger streiften noch kurz über ihre Haut, ehe er sie losließ.
Sie konnte ihm vertrauen! Plötzlich war sie sich ganz sicher. Am liebsten wollte sie noch länger mit ihm reden.
Aber Philine schwamm den Delfinen bereits entgegen. Eleni musste ihre Freundin in Sicherheit bringen. Sie gab sich einen Ruck, sprang ins Wasser und kraulte zu den Delfinen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
K APITEL Z WÖLF
I n den nächsten Tagen wichen Eleni und Philine einander kaum von der Seite. Jeden Abend, wenn die Dunkelheit hereinbrach, hörten sie, wie sich ein Tosen über dem Meer erhob. In den ersten Nächten sahen sie noch hoch an den Himmel oder schauten aus dem Fenster, während die geflügelten Schatten über die Klippen heranstoben und über ihnen hinweg im Inneren der Insel verschwanden. Aber schon nach wenigen Tagen sorgten sie dafür, dass sie bei Einbruch der Dunkelheit in Elenis Betthöhle lagen und sich eng unter die Bettdecke kuschelten, bis das Rauschen am Himmel verstummt war. Erst wenn nur noch das beruhigende Zirpen der Zikaden durch ihre Fenster hereindrang, kamen sie unter ihrer Bettdecke hervor und erkannten die Angst in den Augen des anderen.
Sie wussten nicht, wohin die Schatten flogen, ob sie in Kreta blieben, ob sie bis zum griechischen Festland vordrangen, oder ob sie sich vielleicht sogar über ganz Europa verteilten. Genauso wenig wussten sie, welchen Schaden die Gestalten anrichteten und welche Macht sie tatsächlich besaßen.
Sie wussten nur, dass niemand sonst sie sehen konnte.Nicht Leándra, nicht Oma Greta und nicht einmal Arjana oder Markos. Und immer, wenn Eleni darüber nachdachte, wenigstens ihrer Mutter davon zu erzählen, überfiel sie eine dunkle Ahnung: Es wäre gefährlich, wenn sie jemanden einweihte, möglicherweise sogar tödlich. Also waren Philine und sie mit den Schatten genauso allein wie mit der Insel, und es gab niemanden, der ihnen dabei helfen konnte, das Rätsel zu lösen.
Einzig dieser Adlermann, der möglicherweise Zeus persönlich war, hatte ihnen einen Hinweis gegeben. Mit schönen, wohlklingenden Worten hatte er davon gesprochen, dass an Elenis Mut die Schicksale vieler Menschen hingen. Sie sollte eine Aufgabe erfüllen, die zu groß sei, um sie zu überblicken.
Genau das war im Moment das Einzige, was Eleni wusste: Sie wusste gar nichts! Diese Insel, die Schatten und die seltsamen Nixen spielten ein Spiel mit ihnen und darin war sie nichts weiter als ein kleines Mädchen, das vor einem großen
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