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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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und unübersehbar.
    Mich überkam dasselbe Gefühl wie an jenem Tag im Nebel: Furcht sickerte vom Boden in meinen Körper. Hatte ich den Abdruck dort hinterlassen, als ich aus der Kabine gestiegen war? Oder hatte sich jemand in das dampferfüllte Bad geschlichen, dort gestanden und mich heimlich beobachtet? Ich hoffte inbrünstig, Ersteres möge der Fall sein, aber andererseits … Wie oft hinterließ man schon einen vollständigen Handabdruck auf einer Duschkabinentür?
    Sorgfältig überprüfte ich die Zimmertür. In meiner Aufregung hatte ich wohl vergessen, den Riegel vorzuschieben, als ich in mein Zimmer zurückgekommen war. Jemand hätte durchaus lautlos hereingehuscht sein können und vor der Dusche gelauert haben. Aber wer? Mira? Sonst kam ja niemand in Frage, denn außer uns beiden hielt sich niemand im Haus auf, das wusste ich genau.
    Und dieses Wissen reichte aus, um mir einen eiskalten Schauer über den Rücken zu jagen.

6
    Ein paar Stunden später fuhr ich mit Mira in ihrer Kutsche, die von zwei mächtigen braunen Hengsten gezogen wurde, in die Stadt. Für meine Verabredung war es noch zu früh, aber ich hielt es für ratsam, hier auf der Insel eine Mitfahrgelegenheit zu nutzen, wenn sich mir eine bot.
    Vom See wehte ein kalter Wind herüber, und dunkle Wolken hingen tief und bedrohlich am Himmel. Ich knöpfte meine Jacke zu und war dankbar für meinen warmen Pullover.
    Mira setzte mich vor Jonahs Café auf der Hauptstraße ab und erklärte mir den Weg zu William Archers Kanzlei. »Bis später!«, rief sie mir über die Schulter hinweg zu, als sie die Pferde wieder antrieb. »Viel Glück bei Ihrer Besprechung.«
    Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass ich noch eine gute Stunde totschlagen musste.
    Nach kurzer Überlegung stieß ich die Tür des kleinen Cafés auf und sah eine Gruppe von Leuten, alle ungefähr im Alter meines Vaters, an einem Tisch am Fenster sitzen: eine Frau in einer roten Fleeceweste und Jeans, ein paar Männer in Flanellhemden, eine andere Frau in einem Strickpullover. Offenbar Einheimische.
    Gelächter und Stimmengewirr schlugen mir entgegen, das jedoch abrupt erstarb, als ich den Raum betrat. Jeder einzelne Kopf wandte sich wie magnetisch angezogen in meine Richtung. Hätten sie mich neugierig, aber freundlich gemustert, hätte mich das nicht gestört, aber so – ich kam mir vor, als hätte ich soeben eine geheime Verschwörung auffliegen lassen. Ich war ein Eindringling, den man noch nicht einschätzen konnte, und meine Haut begann unter den forschenden Blicken zu prickeln.
    Was sollte das? Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte es auf der Insel von Touristen sicher nur so gewimmelt, und jetzt starrten mich alle an, als hätten sie noch nie eine Fremde gesehen!
    Ich räusperte mich, um den Mann hinter der Theke darauf aufmerksam zu machen, dass ich gerne etwas bestellen würde. Und endlich brach er das betretene Schweigen.
    »Lassen Sie mich raten.« Er sprach laut genug, dass die Gruppe in der Ecke ihn hören konnte, und zwinkerte mir dabei zu. »Der unstillbare Durst auf einen cremigen Caffè Latte hat Sie hier hereingeführt.«
    Die anderen Gäste verstanden den Wink mit dem Zaunpfahl, wandten widerstrebend die Blicke von mir ab und nahmen ihre Unterhaltung wieder auf.
    »Woher wissen Sie das denn?« Ich bedachte den Mann mit einem breiten Grinsen. »Sie müssen hellsehen können. Ich hätte tatsächlich gern einen Caffè Latte. Mit fettarmer Milch, einem Schuss Mandelsirup und ein wenig Kakaopulver.« Warum sollte ich mich an einem Tag wie diesem nicht einmal verwöhnen?
    Während er die Milch für meinen Kaffee erhitzte, erinnerte ich mich an den Namen, den ich beim Hereinkommen über der Tür gesehen hatte. »Sie müssen Jonah sein.«
    »Der bin ich.« Er reichte mir den dampfenden Becher. »Und Sie?«
    »Hallie James, fremd in diesen Breiten.«
    Jonah lachte, was zahlreiche Köpfe veranlasste, erneut zu mir herumzufahren. »Der Kaffee geht aufs Haus. Willkommen auf der Insel, Hallie!«
    »Sind Sie sicher?«, vergewisserte ich mich, dabei fischte ich ein paar Münzen aus meinem Portemonnaie und schwenkte sie vor seiner Nase hin und her.
    »Absolut«, nickte er. »Alte Inseltradition. Der erste Gast außerhalb der Saison bekommt einen Gratiskaffee.«
    Jonah war ungefähr so alt wie ich, vielleicht auch ein paar Jahre jünger, hatte schulterlanges blondes Haar und, wie es schien, ein äußerst umgängliches Naturell. Sein Gesicht strahlte eine Wärme aus, für die ich

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