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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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jagten mir einen leichten Schauer über den Rücken. Auch ich fühlte mich plötzlich wie gefangen. Vielleicht lag es daran, dass seine blauen Augen so seltsam intensiv schimmerten? Oder an dem Schleier, der sich plötzlich über sein fröhliches Gesicht zu legen schien?
    Mir blieb keine Zeit, das herauszufinden, denn ich sah mit einem Mal, dass es schon fast neun Uhr war. »Oh«, entfuhr es mir. »Zeit für meine Verabredung.«
    »Ich hoffe, Sie kommen bald wieder, Hallie James«, bemerkte Jonah. Alles, was sein Gesicht gerade noch verdüstert hatte, wurde nun wieder von seinem warmen Lächeln vertrieben.
    »Das werde ich sicherlich tun.« Ich lächelte zurück. Dann stand ich auf, stieß die Tür auf, trat auf die Straße hinaus und fischte die Adresse von William Archers Kanzlei aus meiner Handtache.
    Langsam ging ich die immer noch leere Straße hinunter. Die Schaufenster, an denen ich vorbeikam, waren dunkel und teilweise mit Gittern gesichert. Ich kam mir vor wie in einer Geisterstadt.
    Und dann hörte ich es. Ein Flüstern im Wind. Eine leise Kinderstimme, die tief in meinem Ohr und zugleich rings um mich herum sang.
    Komm, liebe Freundin, spiel mit mir,
    drei Puppen hast du stets bei dir.
    Ich fuhr herum, sah aber hinter mir nichts als die verlassene Straße.
    Wir steigen in den Apfelbaum,
    dort oben kann uns keiner schau’n.
    Ich kannte dieses Lied, erinnerte mich von meiner Kindheit her daran. Ich sah mich förmlich einer Spielkameradin gegenüber auf dem Boden sitzen und beim Singen im Rhythmus der Worte in die Hände klatschen. Aber dies war nicht das unbeschwerte Kinderlied, das ich einst gelernt hatte. Die Melodie war zwar dieselbe, klang aber wie in Moll übertragen, und die Stimme sang betont getragen und deutlich.
    Dann rutschen wir ins Regenfass,
    und sind wir beide pitschenass.
    Ein kalter Wind toste jetzt in meinem Inneren, schien die Antwort meinen Hals hinauf und über meine Lippen zu wehen. Flüsternd stimmte ich ein.
    Dann wissen alle, groß und klein,
    wir werden immer Freunde sein!
    Und dann war es vorbei. Ich blickte die Straße hinauf und hinunter, aber es war niemand zu sehen. Ich war allein.
    Hastig setzte ich meinen Weg zur Kanzlei fort. Ich wollte mich so schnell wie möglich innerhalb vier sicherer Wände und in Gesellschaft eines anderen Menschen befinden.
    Und schon an der nächsten Ecke sah ich glücklicherweise das Schild im Wind hin und her schwingen: »Archer & Sohn, Rechtsanwälte«. Das leise, knarrende Geräusch verlieh mir zusammen mit dem, was soeben geschehen war, das Gefühl, der einzige noch lebende Mensch auf der Insel zu sein. Alle anderen – die Leute im Café, Jonah und sogar Mira – schienen mir in diesem Moment wie Geister aus einer anderen Welt und Zeit. Energisch schüttelte ich diesen absurden Gedanken ab und öffnete die Tür.
    Ich fand die Kanzlei verlassen vor. Es gab einen Empfangstisch, einige Stühle, ein Bücherregal, aber keine Angestellten, keine anderen Klienten und vor allem keinen William Archer. Diese allgegenwärtige gespenstische Leere begann allmählich an meinen Nerven zu zerren.
    »Hallo?«, rief ich laut, woraufhin prompt ein Mann mit einer Kaffeetasse in der Hand aus einem Hinterzimmer kam. Und plötzlich verflog die Beklommenheit, die von mir Besitz ergriffen hatte, weil der Mann vor mir eine nahezu greifbare Wärme ausstrahlte.
    »Hallie James?«
    Ich reichte ihm die Hand. »Sie müssen William Archer sein.«
    Er ergriff sie lächelnd. »Sie sind pünktlich.«
    William Archer entsprach in keiner Weise dem Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte. Als ich mit ihm telefoniert hatte, war das Gespräch so formell verlaufen, dass ich mir einen steifen, erzkonservativen Anwalt vorgestellt hatte, der um einiges älter als ich war.
    Doch jetzt stand ein Mann in Jeans und einem weichen, karierten Flanellhemd vor mir. Er hatte die Figur eines Athleten und musste ungefähr in meinem Alter sein. Sein welliges dunkles Haar fiel ihm bis auf die Schultern, seine Augen waren tiefblau und kamen mir irgendwie vertraut vor. Er wirkte eher wie ein Künstler oder vielleicht auch ein Umweltschützer.
    Einen Augenblick lang standen wir uns gegenüber und musterten uns.
    »Es tut mir leid, dass ich Sie gestern Abend nicht von der Fähre abholen konnte«, entschuldigte er sich endlich und trank einen Schluck Kaffee.
    »Das macht nichts«, versicherte ich ihm rasch, dabei spürte ich, wie ich errötete. Reiß dich zusammen, Hallie, sagte ich in Gedanken zu mir

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