Insel der Schatten
Sie war Insulanerin in dritter Generation und lebte in einem Haus, das ihr Urgroßvater vor über einem Jahrhundert gebaut hatte. Auf dieses Haus war sie sehr stolz, und auf ihr Inselblut sogar noch stolzer.«
Mein ganzes Leben lang hatte ich mich nach derartigen Informationen gesehnt, und nun, wo ich sie endlich bekam, hatte ich Mühe, meine Gefühle in Worte zu fassen.
»Es macht mich krank, dass ich um die Gelegenheit gebracht worden bin, sie kennenzulernen«, stieß ich schließlich hervor. »Sie schrieb mir diesen Brief und starb, bevor ich ihn lesen konnte. Ich komme einfach nicht darüber hinweg! Wie oft findet man ein tot geglaubtes Kind wieder und stirbt dann selbst, bevor …« Ich konnte nicht weitersprechen.
»Die tragische Ironie des Schicksals«, bestätigte er mitfühlend.
Eine Weile saßen wir beide schweigend da.
»Sie starb an einem Herzinfarkt, nicht wahr? Das habe ich in einem Nachruf im Internet gelesen. Stimmt das?«, fragte ich schließlich.
William Archer nickte. »Es kam für alle auf der Insel vollkommen überraschend, und am meisten für sie, würde ich sagen.« Er sah mich zögernd an, so als würde er überlegen, ob er noch mehr sagen sollte.
»Und?«, drängte ich.
»Es passierte in der Scheune«, erklärte er. »Ihre Nachbarn kamen herüber und fanden sie, weil Madlyns Hunde nicht aufhörten zu jaulen. Mehrere Polizisten mussten die Tiere richtiggehend von ihr wegzerren. Von ihrem … ihrem Leichnam, meine ich. Sie wollten niemanden an sie heranlassen.«
»Treue Freunde.« Die Worte kamen mir schwer über die Lippen.
»Madlyn hat ihre Tiere über alles geliebt«, schloss er, auf seinen Schreibtisch starrend.
»Und wie hat sie herausgefunden, dass ich noch am Leben bin?«, fragte ich. »Sie hat doch sicher nicht all diese Jahre nach mir gesucht.«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Alle hier, Madlyn eingeschlossen, hielten Sie für tot«, erwiderte er. »Bis vor kurzem.« Er zog einen Umschlag aus seiner Schreibtischschublade und reichte ihn mir. Darin fand ich einen Zeitungsausschnitt.
Thomas James als Lehrer des Jahrzehnts geehrt
Es war eine lokale Auszeichnung, die meinem Vater wenige Monate vor seinem Tod von der Schulbehörde verliehen worden war. Neben dem kurzen Artikel prangte auch ein Foto. Dad lächelte breit in die Kamera und hielt die Medaille hoch, die man ihm überreicht hatte. Die Krankheit hatte ihn zu dieser Zeit schon fest in ihren Klauen, aber er wusste trotzdem, was um ihn herum vorging, und war sehr stolz auf diese Ehrung. Ich selbst stand ebenfalls strahlend neben ihm.
Als ich die Aufnahme in der Hand hielt und zu William aufblickte, stand scheinbar eine stumme Frage in meinen Augen.
»Eine von Madlyns Freundinnen, die sie durch ihre Arbeit kennengelernt hatte, lebt zufällig in Seattle«, erklärte er. »Sie sah diesen Artikel in der Zeitung, und ihr fiel sofort die erstaunliche Ähnlichkeit auf. Also rief sie Madlyn an, und berichtete, die Frau auf dem Foto sähe ihr ähnlich genug, um ihre Tochter sein zu können. Sowie Madlyn das Foto sah, wusste sie Bescheid.«
»Aber warum hat sie sich nicht gleich in das nächste Flugzeug gesetzt? Oder mich angerufen?«
»Sie erzählte mir, sie habe einen Privatdetektiv engagiert, der erst einmal ein paar Nachforschungen anstellen sollte«, gab er zurück. »Nachdem sie erfahren hat, dass Ihr Vater in einem Pflegeheim lebt, machte sie sich Sorgen wegen der Auswirkungen, die es auf Sie haben könnte, wenn sie so plötzlich aus dem Nichts auftauchen würde. Sie wusste nicht, was sie nun tun sollte, und hielt einen Brief für die beste Vorgehensweise, eine so heikle Angelegenheit anzugehen.«
Ich sank seufzend tiefer in meinen Stuhl, schüttelte den Kopf, schloss die Augen und bedeckte sie mit den Händen, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Wie um mich vom Rand des Abgrundes zurückzuholen, an dem ich zu balancieren schien, räusperte sich William Archer vernehmlich.
»Wir sollten jetzt über das Testament sprechen, Hallie. Fühlen Sie sich dem gewachsen?«
»Natürlich«, versicherte ich ihm leise. »Ich habe zwar keine Ahnung, was sie mir hinterlassen haben könnte, aber ich würde mich über ein kleines Andenken sehr freuen.«
Mit einem traurigen Lächeln griff er nach einem Papierbogen, der die ganze Zeit lang umgedreht auf seinem Schreibtisch gelegen hatte und verkündete: »Ich werde ihren letzten Willen am besten laut vorlesen.«
Ich nickte und wappnete mich für das, was ich gleich
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