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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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da«, sagte Will beruhigend. »Und zwar, bevor es zu regnen anfängt. Madlyn wohnt nur ein paar Meilen außerhalb der Stadt.« Und dann leiser: »Wohnte.«
    Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass auch er um sie trauerte. »Kannten Sie sie gut?«
    »Sehr gut sogar. Ich war nicht nur ihr Anwalt, sondern Madlyn und meine Mutter waren gute Freundinnen. Sie sind zusammen aufgewachsen.«
    Mit einem Mal fiel der Groschen. Wie hatte ich nur so begriffsstutzig sein können? Der Umstand, dass mir dieser Mann so vertraut vorkam, wir ungefähr gleichaltrig waren und dass unsere Mütter sich ein Leben lang gekannt hatten …
    »Will …« Ich sah ihn eindringlich an, versuchte Erinnerungen heraufzubeschwören. »Kennen wir uns vielleicht von früher her?«
    Er grinste breit, starrte aber unverwandt geradeaus. »Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wann du dich wohl erinnern würdest.«
    »Waren wir befreundet?«
    »Als Kinder haben wir ständig miteinander gespielt. Ich war praktisch Dauergast bei euch zu Hause.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war fünf Jahre alt gewesen, als mein Vater mich von hier fortgebracht hatte – noch ein Kind, ja, aber alt genug, um mich an einen Freund, eine Mutter und ein Heim zu erinnern. Aber dort, wo diese Erinnerungen verankert hätten sein sollten, klaffte nur eine gähnende Leere. Als ob meine gesamte Kindheit von einem dunklen Leichentuch eingehüllte wäre. Wer oder was hatte sie mit diesem Tuch bedeckt?
    »Ich erinnere mich an nichts, rein gar nichts!«, bekannte ich kopfschüttelnd. »Das ist doch verrückt! Die einzigen Erinnerungen, die ich an früher habe, ranken sich um mich und meinen Vater in unserer kleinen Heimatstadt nördlich von Seattle – und nur um uns beide. Warum kann ich mich an diese Insel überhaupt nicht erinnern? An meine Mutter? An dich? Es ist ja nicht so, dass ich noch ein Baby gewesen wäre, als …«
    Meine Worte verklangen in der Luft. Wir waren in die Auffahrt des Hauses eingebogen, in dem ich geboren worden war, und just in diesem Moment begannen dicke Regentropfen zu fallen.
    Und ich hätte schwören können, dass ich meine Mutter mit ihrem langen kastanienbraunen Haar, dem Strickpullover und dem bunten Schal auf der Veranda stehen und winken sah.

7
    Der Himmel öffnete seine Schleusen, und der Regen prasselte mit solcher Wucht auf uns herab, dass wir kaum noch die Hand vor Augen sehen konnten.
    »Lauf du zum Haus hoch, und ich bringe Tinkerbell und den Wagen in den Stall!«, wies Will mich an.
    Ich tat, wir mir geheißen, sprang aus der Karre und stürmte die Stufen zur Veranda hoch, wo ich stehen blieb, um Atem zu schöpfen und mich umzusehen. Rings um mich herum goss es in Strömen, aber unter dem Dach war es trocken. Wegen des schlechten Wetters konnte ich nicht viel von meiner Umgebung erkennen, aber ich stellte immerhin fest, dass das Haus auf einer Klippe thronte, die auf den See hinausblickte.
    Mein ganzer Körper war wie elektrisiert. Dies war einst mein Zuhause gewesen! Und es war demnach damals nicht von einem Feuer zerstört worden, wie mein Vater behauptet hatte. Meine einzige deutliche Erinnerung an meine Kindheit – das Feuer – war schlichtweg eine Lüge gewesen.
    Will eilte nun ebenfalls die Stufen zur Veranda empor und schüttelte dabei Regentropfen von einem großen Schirm.
    »Du hattest einen Regenschirm?«, bemerkte ich vorwurfsvoll.
    »Den habe ich im Stall gefunden«, lachte er. »Tut mir leid.« Er deutete hinaus. »Jetzt kann man es nicht sehen, aber die Aussicht ist wirklich überwältigend. Du kannst die Stadt, den Hafen und den See überblicken. Ich halte dieses Haus für den schönsten Aussichtspunkt auf der ganzen Insel, und das will etwas heißen.«
    Ich drehte mich um und erhaschte einen Blick auf eine sacht auf der Veranda hin und her schwingende Schaukel. Es sah aus, als bewundere ein unsichtbarer Besucher ebenfalls das herrliche Panorama.
    »Sollen wir hineingehen?«, fragte Will.
    »Noch nicht.« Erst jetzt wurde mir bewusst, wie schwer ich atmete, seit ich auf der Schaukel Platz genommen hatte. »Es fällt mir schwer, das alles zu verarbeiten. Können wir nicht eine Minute einfach hier sitzen bleiben?«
    Er setzte sich neben mich, und wir schaukelten schweigend eine Weile. Mir fielen einige mit Grünpflanzen und Herbstblumen gefüllte Töpfe auf – Schwarzäugige Susannen, meine Lieblingsblumen, und zahlreiche andere, deren Namen ich nicht kannte –, die überall auf der Veranda verteilt

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