Insel der Schatten
traute ich meinem eigenen Verstand nicht mehr wirklich.
Im Wohnzimmer fuhr ich mit der Hand sacht über die Rückenlehne des Sofas, während ich mich umsah. Wie im Manitou Inn bestanden die Böden hier aus glänzendem Parkett, und das Holzwerk rings um die Tür und die Fensterrahmen schimmerte, als wäre es gerade frisch gewachst worden. In der Mitte des Raumes stand ein braunes Ledersofa nebst einer kleineren Couch und einem Sessel. Abgewetzte Läufer bedeckten den Boden. Eine Ecke wurde von einem Kamin eingenommen, der sich bis zu der gewölbten Decke erstreckte, in einer anderen stand ein Flachbildfernseher. Die Wände, die nicht in Richtung See gingen, waren mit Kirschholz getäfelt.
Überall entdeckte ich Fotos – an den Wänden, auf dem Tisch, auf dem Kaminsims – sowie die gerahmten Titelseiten mehrerer Zeitschriften: Time , National Geographic , Vanity Fair . Viele Aufnahmen hatte ich schon auf Madlyns Website gesehen, andere waren neu für mich.
Ich nahm hier ein Foto, dort einen Kerzenleuchter zur Hand und betastete in dem Versuch, meine Spuren zu hinterlassen, die Habseligkeiten meiner Mutter. Staub flirrte in der Luft. Die Energie des Raumes war nahezu greifbar zu spüren, so als würde das Haus mich beobachten.
Will gesellte sich zu mir. »Und wie geht’s?«
»Ich schätze, das ist alles ein bisschen viel für mich«, gestand ich. Die schlichte Wahrheit lautete, dass ich völlig überwältigt war. Das Haus war größer und aufwändiger eingerichtet als ich es erwartet hatte, und ich hatte Probleme, zwei Dinge zu akzeptieren: Dass es jetzt mir gehörte, und dass es jetzt mir gehörte, weil ich früher hier gelebt hatte.
»Sieh dir doch mal den Wintergarten an«, schlug Will vor, dabei deutete er auf die Schiebetüren am anderen Ende des Zimmers. »An einem Tag wie heute kommt er natürlich nicht so gut zur Geltung wie bei Sonnenschein, aber du gewinnst trotzdem einen Eindruck davon.«
Ich schob die Türen auf. Drei Seiten des Anbaus bestanden aus großen Panoramafenstern: eines ging auf den See, die beiden anderen auf den Garten hinaus. Mit Graupel vermischter Regen trommelte gegen das Glas. Wieder ertönte Donnergrollen, gefolgt von einem über den Himmel zuckenden Blitz.
»Wow«, entfuhr es mir, als ich mich auf ein Sofa in der Ecke des Wintergartens sinken ließ. »Es ist herrlich, von hier drinnen aus den Sturm zu beobachten!« Ich sah mich weiter um. Eine kleine Couch mit Blumenmuster, ein Sessel, ein niedriger Glastisch und ein mächtiger hölzerner Schaukelstuhl bildete zusammen mit dem Sofa, auf dem ich saß, den Sitzbereich. Den Stil hätte man als Vintagelook bezeichnen können, aber ich gewann den Eindruck, dass die Möbel tatsächlich alt waren und weit entfernt von retro. Zeitschriften stapelten sich in den Regalen, Bücher auf dem Tisch. Mir kam es vor, als hätte meine Mutter hier einen großen Teil ihrer Zeit verbracht. Ich konnte sie – oder etwas anderes Lebendiges – förmlich spüren.
Und dann hörte ich es klar und deutlich.
Hallie! Halcyon Crane! Hast du etwas mit Mutters Kamera angestellt?
Es war eine Frauenstimme, tief und melodisch, und sie ertönte direkt hinter mir. Ich fuhr herum, zog mich auf die Knie und spähte über die Sofalehne. Niemand war zu sehen.
»Hallie …« William trat zu mir in den Wintergarten, brach aber den begonnen Satz ab, als er mein Gesicht sah. »Ist was?«
Ich atmete jetzt schwer und spürte, dass mein Herz wild hämmerte. Hastig rieb ich mir die Hände an meiner Jeans ab. »Nein, nichts. Ich … ich dachte nur, ich hätte etwas gehört.«
»Die Hunde?«
»Nein. Eine Stimme. Die Stimme meiner Mutter, glaube ich.«
Er stand einen Moment da und musterte mich eindringlich. Wahrscheinlich schätzte er den Grad meines Irrsinns ab. Dann sagte er: »Weißt du was? Vielleicht kommen deine Erinnerungen langsam zurück.«
War das möglich? Eine Kindheitserinnerung an diesen Ort? Meine erste? »Ich wette, ich habe hier als Kind oft gespielt.« Lächelnd stand ich vom Sofa auf und beschrieb eine kleine Drehung. »Es ist schließlich ein wunderschöner Raum.«
»Das hast du tatsächlich.« Nun lächelte er auch. »Wir haben den Wintergarten beide geliebt.«
Ich stellte mir ein kleines Mädchen vor, dasselbe Mädchen in Weiß, das ich zuvor in Gedanken gesehen hatte, das in der Ecke mit seinen Kuscheltieren spielte. Oder auf dem Bauch lag, die Füße zum Himmel gereckt, und ein Buch las.
»Was hältst du davon, wenn wir den Hunden in
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