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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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standen. Auf der Fußmatte vor der leuchtend rot gestrichenen Tür stand »Mach bloß, dass du wegkommst«, was mir ein Lächeln entlockte.
    »Nach deinem … nun ja, deinem Tod …«, Will hielt den Blick auf den Boden gerichtet, »… bin ich jahrelang nicht hier gewesen. Ich brachte es einfach nicht über mich.«
    Zum zweiten Mal an diesem Tag begriff ich etwas, was mir längst hätte klar sein müssen: Dieser Mann hatte vor vielen Jahren eine Freundin verloren, und nun war sie quasi von den Toten wiederauferstanden. Ich war nicht die Einzige, die mit den neuen Gegebenheiten fertig werden musste … »Was haben die Leute hier denn gedacht, was meinem Vater und mir zugestoßen wäre?«
    »Ein Bootsunfall«, erwiderte er rasch. »Man hat euren gekenterten Kajak gefunden. Jeder auf der Insel hat sofort sein eigenes Boot zu Wasser gelassen, um nach euch zu suchen, aber …« Seine Worte verklangen in einem Seufzen.
    Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. »Lass uns hineingehen«, schlug ich deshalb vor, dabei versuchte ich, das Bild Dutzender bunter Kajaks, alter Fischerboote und eleganter Jachten, die alle auf der Suche nach mir über den See glitten, zu verdrängen.
    Will zog einen Schlüsselring aus der Tasche, schloss die Haustür auf und hielt sie mir auf, als ich mein neues Heim betrat.
    Ich gelangte in eine große quadratische Halle. Zu einer Seite lag das Wohnzimmer, zur anderen das Esszimmer, und in der Mitte befand sich eine breite Holztreppe.
    »Wo steckt denn das Empfangskomitee?« Will blickte sich nach allen Seiten um. »Tundra! Tika!«
    Sofort hörte ich Krallen und Pfoten über den Holzboden scharren, und im nächsten Moment brachen zwei riesige Hunde durch die Flügeltür, die das Esszimmer von einem Nachbarraum trennte, bei dem es sich vermutlich um die Küche handelte. Die Hündinnen sahen aus wie Huskys, waren aber wesentlich größer: Ihr langes weißgraues Fell, die buschigen Schwänze und die dunklen Masken rund um die goldenen Augen deuteten darauf hin, dass sie von Timberwölfen abstammten. Eine Hündin trug ein geknotetes Seil in ihrer Schnauze, die andere ein kleines Plüschkaninchen. Sie strichen uns um die Beine, wedelten eifrig mit den Schwänzen und legten grüßend die Ohren an. Will streichelte und tätschelte sie im Gegenzug und murmelte dabei: »Brave Mädchen. Ihr seid zwei brave Mädchen.«
    Eine der beiden, die Größere, sprang an mir hoch und legte mir eine handtellergroße Pfote auf die Schulter und die andere auf den Kopf. Ich wagte nicht, mich von der Stelle zu rühren. »Sie tun doch nichts, oder?«
    »Sitz, Tundra!«, befahl Will sofort, woraufhin der Hund von mir abließ und sich hinsetzte. »Sie liebt Besucher. Und nein: Sie sind beide ganz friedlich, aber sie haben einen ausgeprägten Beschützerinstinkt.«
    Ich kraulte das mächtige Tier behutsam hinter den Ohren. »Das sind also die Hunde meiner Mutter.«
    Will nickte. »Tundra und Tika. Malamuts, ursprünglich Schlittenhunde aus Alaska. Aber die einzige Arbeit, die diese beiden leisten, besteht darin, von der Couch zu ihren Futternäpfen zu trotten. Ich habe mich seit Madlyns Tod um sie gekümmert, sie aber heute Morgen hierhergebracht, bevor ich in die Kanzlei gefahren bin. Ich dachte, du würdest die Mädchen sicher gern in ihrer gewohnten Umgebung kennenlernen, auch wenn du sie nicht behalten willst. Sie gehören ja jetzt dir.«
    »Sie sind wirklich hübsche Tiere«, murmelte ich, während ich in die glühenden goldenen Augen starrte.
    Nach erfolgter Begrüßung rollten sich die beiden jetzt nebeneinander auf dem Boden zusammen. Mir entging nicht, dass sie den Blick nicht von mir und Will abwandten.
    »Wir müssen nicht hier in der Halle stehen bleiben.« Will schloss die Eingangstür hinter uns. »Sieh dich doch ein bisschen um!«
    Als ich etwas tiefer in das Haus vordrang, flammte wie bei einer Diashow eine Reihe von Bildern vor mir auf: Ein kleines, weiß gekleidetes Mädchen stapft die Stufen empor. Dasselbe Mädchen rutscht vor Vergnügen quiekend das Treppengeländer hinunter. Eine finster dreinblickende Frau in einem langen schwarzen Kleid taucht wie aus dem Nichts auf.
    Erinnerte ich mich dabei an Einzelheiten aus meiner Kindheit, oder malte ich mir nur aus, wie es hätte sein können? Ich wusste es nicht. Die Bilder erschienen mir real, aber nachdem ich heute Nacht eine ertrinkende Person im See gesehen und später am Morgen auf der Straße von Wills Kanzlei diesen Singsang gehört hatte,

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