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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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Ich habe vom anschließenden Trauerfest immer noch genug Kuchen und Schmorfleisch in der Kühltruhe, um ein Jahr davon leben zu können.«
    Der Gedanke an meinen Vater trieb mir die Tränen in die Augen. Ich vermisste ihn plötzlich entsetzlich. Während dieser ganzen Reise hatte ich mich so auf meine Mutter konzentriert, dass ich darüber ganz vergessen hatte, wie allein ich seit dem Tod und eigentlich schon seit der Krankheit meines Vaters war. Ich wandte das Gesicht von Will ab.
    »Es tut mir leid, Hallie«, sagte er leise. »Und ich freue mich, dass du einen so wundervollen Vater hattest. Ich selbst habe auch nie so recht geglaubt, was die Leute über ihn gesagt haben. Es passte einfach nicht zu ihm.«
    »Was die Leute über ihn gesagt haben? Das ist doch dreißig Jahre her! Was kann es die Leute da noch kümmern? So lange hegt doch niemand seinen Groll!«
    »Bei dem Mord an einem Kind sieht die Sache schon anders aus …«
    »Aber ich bin nicht tot, Will! Das wird bald jeder sehen, und dann …«
    »Nicht du , Hallie«, erwiderte er nach einer kurzen Pause langsam. »Ein anderes Kind starb, kurz bevor du die Insel verlassen hast. Und es starb in eurem Haus. Du erinnerst dich scheinbar nicht mehr daran.«
    Für den Rest meines Lebens werde ich den Schlag spüren, den mir diese Worte nun versetzten. Ich war völlig überfordert von dem, was ich da gerade gehört hatte. Ich wurde mir der undurchdringlichen Finsternis rings um den Wagen bewusst und wurde dann förmlich von ihr verschluckt. Ich hörte das Gequake der Frösche in den Marschen und roch die mit moosiger Regenluft gepaarten Ausdünstungen des Pferdes vor uns. Und mein ganzer Körper prickelte vor Furcht.
    »Was hast du da eben gesagt?«, krächzte ich.
    Will schüttelte den Kopf, ohne mich anzusehen. »Na, besser, du erfährst es von mir, nicht wahr? Es ist lange genug geschwiegen worden.«
    Ich starrte ihn mit großen Augen an, nickte dann aber.
    Er holte tief Atem und räusperte sich. »In eurem Haus starb … wurde ein Mädchen ermordet, und alle Beweise deuteten auf deinen Vater als Täter hin.«
    Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein.Mein Dad war nicht einmal in der Lage, eine Spinne zu töten, und er würde niemals einen Menschen umbringen. Schon gar kein Kind!
    »Sie fiel aus dem Fenster im dritten Stock«, fuhr Will stockend fort.
    Ein neues Bild nahm in meinem Kopf Gestalt an: ein Mädchen mit langen Zöpfen. Ein weißes Kleid. Ein offenes Fenster. Ich lehnte mich hinaus, spähte zum Boden. Sah einen Körper dort liegen. Aber ich erzählte Will nichts von diesen Gedankenfetzen oder Erinnerungen oder was immer sie auch waren. Stattdessen sagte ich: »Sie fiel aus dem Fenster? Dann war es ja wohl ein Unfall. Warum haben die Leute geglaubt, es habe sich um einen Mord gehandelt?«
    »Die Polizei fand in dem Raum, aus dessen Fenster sie gestürzt ist, Kampfspuren. Umgeworfene Lampen, eine zur Seite gekippte Kommode, heillose Unordnung. Das Kleid des Mädchens war zerrissen. Und …« Er brach abrupt ab.
    »Und?«
    »Ihr Hals wies Spuren von Würgemalen auf.«
    Ich verdaute diese Bemerkung schweigend. Mein Vater mochte unseren gemeinsamen Tod vorgetäuscht, mich entführt und durch das halbe Land verschleppt haben, aber er war kein Kindermörder.
    »Die Leute glauben also, mein Vater hätte dieses Mädchen ermordet?« Ich konnte kaum fassen, dass diese Worte tatsächlich aus meinem Mund gekommen waren. »Das ist einfach lächerlich!« Jetzt sprach ich lauter als beabsichtigt. »Ist sie erwürgt worden oder bei dem Sturz umgekommen? Letzteres vermutlich, denn es ist absolut ausgeschlossen, dass mein Dad ein Kind erwürgt und aus einem Fenster geworfen hat. Es muss ein Unfall gewesen sein.«
    »Sie ist an den Folgen des Sturzes gestorben.«
    Ich starrte ihn stumm an.
    Er fuhr fort: »Die Polizei wollte deinen Dad damals gerade verhaften, als ihr zwei … verschwandet.«
    Ich sah ihm an, dass hinter der Geschichte noch mehr steckte, war aber nicht sicher, ob ich es hören wollte.
    »Die meisten Leute hier auf der Insel dachten, er hätte dich und dann sich selbst ebenfalls umgebracht«, sagte Will schließlich. »Und das werteten sie wiederum als Schuldeingeständnis.«
    »Wer war das Mädchen?«, stieß ich hervor.
    »Ihr Name war Julie Sutton«, erwiderte Will ruhig. »Sie spielte an jenem Tag mit dir in eurem Haus.«
    Ich spürte, wie sich meine Lungen blähten, bekam aber keine Luft. Julie Sutton. Der Klang ihres Namens ließ ein tiefes,

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