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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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schwarzes Loch in meinem Magen entstehen. Ich wusste, dass ich sie kennen, mich an sie erinnern sollte, aber das Loch verschluckte sämtliche Erinnerungen, die vielleicht einmal da gewesen waren. »Sie war eine Freundin von mir?«, flüsterte ich.
    Will nickte. »Und von mir ebenso.«
    »Warst du auch dabei?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich war an diesem Tag mit meinen Eltern auf dem Festland, sonst wäre ich mit Sicherheit bei euch gewesen.«
    »Aber …« Ich konnte das, was ich empfand, nicht in Worte fassen. In meinem alten Haus war ein Kind umgebracht worden? Eine Freundin von mir? Und ich war auch dort gewesen? »Habe ich das alles mit angesehen?« Meine Stimme glich einem schrillen Quieken.
    »Ich weiß es nicht«, gab er zurück. »Niemand weiß genau, was geschehen ist und wo du und dein Vater war. Aber alle nehmen an … ja, dass du Zeugin dieses Mordes warst.«
    Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte einfach nicht stimmen.
    »Julies Eltern leben immer noch auf Grand Manitou«, fuhr Will fort. »Auch sie geben wie alle anderen hier deinem Vater die Schuld am Tod ihrer Tochter. Jetzt verstehst du vielleicht, warum die Leute nicht gerade begeistert sein werden, wenn sie erfahren, dass dein Dad für dieses Verbrechen nie zur Rechenschaft gezogen wurde und den Rest seines Lebens in einer Kleinstadt nördlich von Seattle statt in einem Gefängnis beschlossen hat.«
    Ein paar Minuten lang fuhren wir schweigend weiter. Ich dachte an den Halloweenabend zurück, an dem mein Vater sich als Cowboy verkleidet und mit mir, einer Hexe mit spitzem Hut, um die Häuser gezogen war. Ich dachte an die Sorge in seinen Augen, als ich nach der Trennung von Richard in einer feuchtkalten Nacht mit meinen Koffern in der Hand vor seiner Tür gestanden hatte. Ich dachte an seinen leeren Blick, als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Und dann dachte ich an meine Mutter, die all die Jahre auf dieser Insel gelebt hatte, Seite an Seite mit Nachbarn, die ihren Mann für einen Mörder gehalten hatten.
    »Wie haben sie sie behandelt? Meine Mutter, meine ich. Nachdem wir fort waren.«
    »Das kann ich dir nicht sagen, Hallie«, entgegnete Will. »Ich war ja selbst noch ein Kind. Aber sie ist immerhin geblieben, nicht wahr? Sie war durch und durch eine Insulanerin. Wenn ich raten müsste, was geschehen ist, würde ich sagen, die anderen haben sie im Lauf der Zeit ebenso für ein Opfer gehalten wie dich.«
    Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich presste die Hände vor den Mund. »Halt an«, keuchte ich. »Halt an! Ich muss hier raus, mir wird schlecht.«
    Als Will Tinkerbells Zügel anzog, sprang ich aus der Karre auf die schlammige Straße hinaus und rannte blindlings ins Dunkel. Nach ein paar Schritten beugte ich mich vor und erbrach mich so heftig, dass ich am ganzen Körper zu zittern begann.
    Und dann stand Will neben mir, hielt mir ein Taschentuch hin und sagte irgendetwas Tröstliches, das ich jedoch kaum warnahm. Ich sank auf das nasse Gras. So fühlt man sich also, wenn man an einem Schock stirbt, dachte ich. Ich werde hier an Ort und Stelle einen Herzinfarkt erleiden.
    Was natürlich nicht der Fall war. Will führte mich zum Pferdewagen zurück und half mir hinein. »Ich bringe dich jetzt zu deiner Pension«, sagte er hilfsbereit zu mir.
    Aber irgendwie wollte ich nicht dorthin zurück und mich Miras bohrenden Fragen aussetzen. Ich wusste, dass sie vor Neugier darüber, wie mein Treffen mit Will verlaufen war, fast platzen musste. In Madlyns Haus wollte ich aber auch nicht. Ich wollte nirgendwo auf dieser verdammten Insel hin!
    Vielleicht war es ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Ich wollte wieder die Frau sein, die ich gewesen war, bevor all dies begonnen hatte: Hallie James, Tochter von Thomas James, des besten Vaters der Welt.

9
    Will brachte mich natürlich doch zur Pension zurück. Wohin auch sonst?
    »Das alles tut mir sehr leid, Hallie«, sagte er, als wir vor dem Manitou Inn hielten.
    Ich nickte nur. Während der restlichen Fahrt hatte ich kein Wort gesprochen.
    »Und nur fürs Protokoll: Ich glaube nicht, dass dein Vater dieses Mädchen getötet hat. Ich kannte deinen Dad. Zu so einer Tat wäre er meiner Meinung nach nicht fähig gewesen.«
    Ich wusste selbst nicht, was ich glauben sollte, hatte verzweifelt nach möglichen Gründen dafür gesucht, dass er mich von hier fortgebracht hatte, und bei Gott, jetzt war ich auf einen gestoßen. Die ganze Geschichte ergab so schließlich einen Sinn – wenn auch

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