Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
Vom Netzwerk:
dieser Insel geflohen, und nun tauchte ich hier auf und zerrte all das ans Licht, was er um jeden Preis hatte verbergen wollen.
    Nur eines wusste ich mit Sicherheit: Ich war Will unendlich dankbar dafür, dass er mich schon vor meiner Ankunft auf der Insel davor gewarnt hatte, irgendjemand zu erzählen, dass ich die tot geglaubte Halcyon Crane war. Der Himmel weiß, wie beispielsweise der Fährkapitän darauf reagiert hätte. Und was war mit Mira? Sie war schätzungsweise zehn Jahre älter als ich und ihren eigenen Worten zufolge eine eingeborene Insulanerin. Sie musste sich doch an den Mord erinnern oder zumindest davon gehört haben. Wie würden all diese Menschen reagieren, wenn sie die Wahrheit erführen? Was würden sie von mir denken?
    Ich spielte mit dem Gedanken, die Insel sofort zu verlassen, gleich mit der nächsten Fähre. Es gab nichts einfacheres, als diesen Ort hinter mir zu lassen und in mein ruhiges, sicheres Haus am Puget Sund zurückkehren, ohne irgendjemandem je entgegentreten zu müssen. Doch eine vorzeitige Abreise war gar nicht möglich, so gern ich auch geflüchtet wäre. Ich musste mindestens eine Woche auf dieser Insel ausharren – erst dann würde die Fähre wieder auf Grand Manitou anlegen.
    Ich tauchte unter und schwebte eine Weile mit angehaltenem Atem im Wasser. Es tat gut, sich schwerelos zu fühlen. Doch dann hörte ich etwas. Ein Lachen.
    Ich schlug die Augen auf und sah in das Gesicht eines kleinen Mädchens, das auf mich herabblickte. Das Mädchen in dem weißen Kleid. Mit den langen Zöpfen. Dasselbe Mädchen, das ich einige Stunden zuvor in Madlyns Haus zu sehen gemeint hatte. Ihre Lippen bewegten sich nicht, aber ich hörte ihren Gesang trotzdem.
    Komm, liebe Freundin, spiel mit mir,
    drei Puppen hast du stets bei dir.
    Prustend schoss ich aus dem Wasser hoch und fand – niemanden vor. Hastig kletterte ich aus der Wanne, hüllte mich in ein Handtuch und rannte in mein Zimmer zurück. Auch hier war niemand zu sehen. Niemand war hier gewesen! Schon gar kein kleines Mädchen in einem weißen Kleid.
    Ich zitterte am ganzen Körper. War dieses Geschöpf etwa eine Ausgeburt meiner Fantasie? War es Julie Sutton, das ermordete Kind? Erinnerte ich mich an sie?
    Ich schlüpfte in meinen Schlafanzug und kroch unter die Decke, aber das Zittern ließ nicht nach. Also schaltete ich den Fernseher wieder ein, damit die Stimmen und das Gelächter anderer Menschen den Raum erfüllten.
    Ich kann mich nicht daran erinnern, das Gerät wieder ausgeschaltet zu haben, muss es aber getan haben, ehe mich der Schlaf übermannte.
    Ich träumte von der Überfahrt mit der Fähre am Tag zuvor, nur war ich diesmal nicht allein an Deck, als ich die Insel aus dem Wasser auftauchen sah. Mein Vater trat hinter mich und schloss mich in die Arme.
    »Hallo, Mausezahn«, sagte er liebevoll.
    »Dad!«, rief ich, ehe ich ihn fest umarmte. Dann erst erkannte ich, dass ich nicht als Erwachsene mit ihm auf dem Deck stand, sondern als Kind. Er hob mich hoch, und ich schlang die Beine um seine Taille.
    »Ich möchte nicht, dass du dorthin zurückgehst, Hallie«, mahnte mein Vater. »Du bist dort nicht sicher.«
    »Aber ich bin doch schon dort, Daddy.«
    »Schau dort.« Er deutete auf das Wasser hinaus. Ich wandte den Kopf der Insel zu, die immer näher kam. Was ich erblickte, flößte mir nacktes Entsetzen ein: Hunderte, vielleicht Tausende sich windender Kreaturen bevölkerten das Wasser und einen schmalen Streifen Land. Ich hielt sie für Geister oder Gespenster, und sie alle bewegten sich wie im Zeitlupentempo und starrten mich mit leeren, seelenlosen Augen an. Dann versuchten sie zu sprechen, aber ihre Münder bildeten nur stumme, klaffende Löcher.
    Es war mein Vater, der erneut das Wort ergriff. »Verstehst du jetzt, Hallie? Deshalb habe ich dich fortgebracht.«
    Ich wachte in Schweiß gebadet auf. Meine Beine hatten sich in dem verknäulten, feuchten Bettzeug verheddert. Es war erst kurz vor ein Uhr. Ich musste eine weitere Nacht überstehen, bis die Sonne endlich wieder aufgehen würde.

10
    Als ich die Augen öffnete, fiel helles Sonnenlicht durch das Fenster. Nach einem Blick auf die Uhr schoss ich mit einem Ruck hoch. Fast halb elf! Wie hatte ich nur so lange schlafen können?
    Während ich duschte und mich dann auf den Weg nach unten machte, grübelte ich über meine missliche Lage nach. So wie ich es sah, hatte ich nur zwei Möglichkeiten: Ich konnte mich hier vor allen Leuten verkriechen, bis nächste Woche

Weitere Kostenlose Bücher