Insel der Schatten
einen grausamen. Trotzdem passte sie nicht zu dem Mann, den ich so gut gekannt hatte. Ich kletterte aus der Karre und stolperte auf zittrigen Beinen vorwärts.
Im nächsten Moment war Will auch schon an meiner Seite. »Lass dich von mir wenigstens noch bis zum Haus bringen«, sagte er, dabei schlang er einen kräftigen Arm um meine Taille. Ich lehnte mich gegen ihn und barg den Kopf an seiner Schulter, während er mich die Stufen zur Haustür emporführte.
»Gehst du morgen Abend mit mir essen?«, fragte er. »Und rufst mich morgen früh an? Oder komm doch in der Kanzlei vorbei. Ich möchte sicher sein können, dass du diese Nacht überlebt hast.«
»Okay«, flüsterte ich und versuchte, mir ein Lächeln abzuringen. Ich glaube nicht, dass es überzeugend wirkte.
Will zog mich in seine Arme. Ich schloss seufzend die Augen und lehnte meine Stirn gegen seine Brust. Er roch nach Regen.
»Mach dir keine Sorgen, Hallie«, sagte er leise. »Es kommt alles wieder in Ordnung. Die Leute werden sicherlich anfangs schockiert sein. Aber ich werde nicht von deiner Seite weichen und mich zwischen dich und jeden auf der Insel stellen, der es wagt, schlecht über deinen Vater zu reden.«
Ich atmete tief aus und fragte mich, ob ich jemals einen so guten Freund gehabt hatte wie diesen Mann, den ich ja eigentlich kaum kannte.
»Ich meine es ernst, Hallie! Morgen früh will ich ein Lebenszeichen von dir.« Er wartete noch auf der Veranda, bis ich im Haus verschwunden war.
Drinnen dankte ich meinem Schöpfer inbrünstig dafür, dass Mira nicht da war und ich keine neugierigen Fragen beantworten musste, mit denen sie mich mit Sicherheit überschüttet hätte. Stattdessen fand ich einen Zettel, auf dem stand, dass sie ausgegangen sei. Das Haus war wundervoll leer und friedlich, und noch besser gefiel mir, dass ein Rostbraten im Backofen warmgehalten war. Dem Himmel sei Dank! Ich war tatsächlich halb verhungert. Es war erst kurz nach sechs, aber mir kam es schon viel später vor. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich seit dem Frühstück kaum etwas gegessen hatte, nur die Kekse und das Popcorn in Madlyns Haus, und selbst das hatte ich ja wieder von mir gegeben. Der Gedanke an ein Abendessen erschien mir also äußerst verlockend, darum trottete ich in die Küche und machte mir ein mit Roastbeef belegtes Sandwich mit Salat.
Dann suchte ich nach einem Tablett. Ich wusste nicht, wann Mira zurückkommen würde, und wollte einer Begegnung mit ihr ausweichen, also hatte ich beschlossen, mich in mein Zimmer zurückzuziehen. Vorsichtig stieg ich mit dem beladenen Utensil die Treppe hoch.
In meinem Zimmer stellte ich das Tablett erst einmal auf dem Bett ab und schaltete den Fernseher ein, um beim Essen ein wenig das Gefühl von Gesellschaft zu haben. Nachdem ich gegessen hatte, stellte ich das Gerät wieder aus, ließ mir ein Bad ein und glitt in das dampfende Wasser. Ich war froh, mich gerade an diesem für mich so furchtbar verlaufenen Abend in der Wanne räkeln zu können, denn ich war schon immer der Meinung gewesen, dass ein langes, heißes Bad fast alle Probleme lösen oder zumindest den Stress lindern konnte, den diese mit sich brachten.
Doch es dauerte nicht lange, bis mir erneut die Tränen kamen. Langsam fragte ich mich, ob es mir je wieder gelingen würde, nicht bei jeder kleinsten Gelegenheit loszuweinen, spürte aber gleichzeitig, wie jede Faser meines Körpers erzitterte, wenn ich an das dachte, was ich heute erfahren hatte. Mein Dad ein Mörder? Mein herzensguter Vater?
Ich weinte um den sanftmütigen, besonnenen Mann, dessen unerschütterliche Liebe und Unterstützung die Frau hervorgebracht hatten, die ich heute war. Ich weinte um all die Abende, an denen er mich zu Bett gebracht, mich auf die Stirn geküsst und mir süße Träume gewünscht hatte. Ich weinte um den Mann, der sich seiner Tränen nie geschämt, sondern mich in die Arme genommen und zusammen mit mir geschluchzt hatte, als wir unseren Hund einschläfern lassen mussten. Ich weinte um die leere Hülle dieses Mannes, die die Krankheit schließlich aus ihm gemacht hatte. Dessen einzige Freude die Vögel vor seinem Fenster gewesen waren. Konnte dieser Mann tatsächlich ein Mörder gewesen sein? Konnte er das Mädchen getötet haben, das an jenem Tag aus unserem Fenster gestürzt war? Aus welchem Grund sollte mein Dad ein Kind umgebracht haben?
Im nächsten Moment schämte ich mich zutiefst für diese Überlegungen. Mein Vater war vor dreißig Jahren mit mir von
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