Insel der Schatten
ging mir ein noch wesentlich unerfreulicherer Gedanke durch den Kopf. Ich hatte beabsichtigt, nur kurze Zeit auf der Insel zu bleiben, eine Woche vielleicht, aber bei genauerer Betrachtung hatte ich eigentlich keinen Grund, so schnell nach Hause zurückzukehren. Mein Vater war tot. Sicher, ich hatte Freunde, aber seit ich nach meiner Scheidung in die Staaten zurückgekehrt war, hatte ich Mühe gehabt, meine alten Freundschaften wieder aufzufrischen. Ich war fast zehn Jahre fort gewesen, und während dieser Zeit hatten die meisten eigene Familien gegründet und waren damit beschäftigt, ihre Kinder zum Musikunterricht oder zu Baseballspielen zu kutschieren, während ich als Single plötzlich ziemlich allein dastand. Unsere Lebenswege waren in unterschiedlichen Richtungen verlaufen.
Richard war inzwischen wieder nach England geflogen, also wartete niemand, noch nicht einmal ein Haustier, auf meine Rückkehr. In diesem Moment, in dem zugigen Wagen, erschien es mir plötzlich unsagbar traurig, dass ich ein gewisses Alter erreicht hatte, ohne irgendwelche wirkliche Bindungen zu knüpfen.
»Ich werde erst mal ein paar Wochen bleiben«, beschloss ich spontan, denn das Haus meiner Mutter – und jetzt meins – war immerhin ein Fixpunkt, mit dem ich mich verbunden fühlte. Zwar nicht durch einen lebenden Menschen, aber wenigstens durch die Erinnerung an ihn und all die, die vorher hier gelebt hatten. Mich eingeschlossen.
»Schön.« Will lächelte mir zu. »Es wird Spaß machen, dich von neuem kennenzulernen. Ich bin froh, dass du nicht gleich wieder abreist.«
Das klang doch erfreulich.
»Da du länger hierbleibst, sollten wir uns aber mit der Frage befassen, wie wir allen hier beibringen, wer du bist«, fuhr er fort.
Ach ja. Ich hatte vorübergehend vergessen, dass er mich ja ausdrücklich davor gewarnt hatte, den Leuten zu verraten, dass ich Madlyn Cranes tot geglaubte Tochter war. Was hatte er bei unserem ersten Telefonat gesagt? Das Verschwinden meines Vaters und mir stünde mit ›Ereignissen‹ in Zusammenhang, an die sich die Insulaner bis heute erinnerten.
»Ich bin heute in Jonahs Café einer Gruppe von Leuten in die Arme gelaufen, die mich alles andere als freundlich empfangen haben«, gestand ich. »Es war fast unheimlich. Sie haben mich angestarrt wie einen Geist.«
Will nickte. »Bei dieser Ähnlichkeit – kann man es ihnen verdenken? Aber da ist noch etwas anderes. Ich hätte schon früher davon anfangen sollen, oben im Haus. Aber ich wusste einfach nicht, wie.«
Die Luft um uns herum schien mit einem Mal kälter zu werden. »Die Leute werden mich nicht mit offenen Armen aufnehmen«, versetzte ich. »Das ist mir mittlerweile klar geworden.«
Will schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Sie werden dich schon willkommen heißen, es ist nur so …« Er zögerte. »Ich finde einfach nicht die richtigen Worte.«
»Du fängst an, mir langsam Angst einzujagen, Will! Was kann denn so schlimm sein?«
Er starrte unverwandt geradeaus. »Ich glaube, die Insulaner haben weniger ein Problem damit, dass du all die Jahre am Leben warst. Bei deinem Vater sieht das allerdings anders aus.«
»Du meinst, weil er …« Ich hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden. »Weil er mich von meiner Mutter getrennt hat? Ich weiß, dass sie hier sehr beliebt war. Haben sie ihm das wirklich so übel genommen?«
Will schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Oder nicht nur. Ich spreche von etwas anderem.«
Schweigen machte sich breit. Ich spürte einen scharfen Schmerz in der Magengegend, der bewirkte, dass ich am liebsten aus dem Wagen gesprungen und weggelaufen wäre. Beinahe hätte ich diesem Impuls nachgegeben, aber ich wusste nicht, wohin. Ich musste sitzen bleiben und mir das Furchtbare anhören, das Will mir zu sagen hatte, was immer es auch war.
»Was für eine Art von Vater war dein Dad?«, fragte er schließlich.
»Der beste, den man sich wünschen konnte!«, erwiderte ich eine Spur zu herausfordernd. »Ja, ja, ich weiß, dass er mich regelrecht entführt hat. Ich habe keine Ahnung, warum er das getan hat, aber er hat sicher seine Gründe gehabt! Und eines kannst du mir glauben: Er hat dafür gesorgt, dass ich eine unbeschwerte Kindheit hatte. Er hat alles getan, um mir Vater und Mutter zugleich zu sein. Ich habe ihn mehr geliebt, als du dir vorstellen kannst, und das gilt auch für alle, die ihn gekannt haben. Er war Lehrer an der Highschool, und zu seiner Beerdigung sind dreihundert Leute gekommen!
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