Insel der Schatten
die Fähre kam, das Haus verkaufen und nie wieder auf die Insel zurückkehren. Oder ich konnte das tun, was mein Vater all die Jahre nicht getan hatte: bleiben und kämpfen.
Ich fand Mira in ihrem Büro, einem kleinen Raum neben der Küche. Ich steckte den Kopf hinein und wünschte ihr einen guten Morgen.
»Hallo, Dornröschen«, lächelte sie, »na, endlich aufgewacht?«
»Ich hatte gestern einen harten Tag. Und eine anstrengende Nacht«, seufzte ich.
Sie blickte von den vor ihr liegenden Papieren auf und ließ den Kugelschreiber in ihrer Hand sinken. »Hallie, ist alles in Ordnung?« Noch immer spielte ein freundliches Lächeln um ihre Lippen.
Ich fragte mich, ob es wohl ersterben würde, wenn ich ihr die Wahrheit über meine Person gestand. »Nun ja«, begann ich. »Ich habe gestern seltsame und auch ziemlich beunruhigende Neuigkeiten erfahren.«
Mira stand interessiert auf. »Wissen Sie was? Ich hole Ihnen Kaffee und einen Muffin, und dann erzählen Sie mir alles.«
Mein Herz hämmerte stürmisch in meinem Hals, und mein Magen begann zu schmerzen. Ich hoffte, nicht mit einer Wiederholung der vergangenen Nacht rechnen zu müssen.
Mira hatte eine Kaffeekanne, ein Milchkännchen, eine Zuckerdose, ein paar Muffins und zwei Tassen auf ein Tablett gestellt. »Kommen Sie, wir gehen in den Wintergarten.« Dort ließ sie sich in einen Rattansessel sinken, während ich ihr gegenüber in einem Schaukelstuhl Platz nahm.
Als sie den Kaffee einschenkte und Milch hinzufügte, kam ich direkt zur Sache. »Madlyn Crane hat mir alles hinterlassen, was sie besaß.«
Mira verschluckte sich fast an dem Schluck, den sie gerade getrunken hatte. »Aber hatten Sie nicht gesagt, Sie würden sie überhaupt nicht kennen?«
»Ich habe sie auch nicht gekannt«, versetzte ich schlicht. »Aber sie kannte mich.«
Ein verwirrter Ausdruck trat auf Miras Gesicht. Da sie offensichtlich kein Wort verstand, fuhr ich fort: »Ich habe herausgefunden, dass ich ihre Tochter bin.«
Und nun starrte sie mich mit demselben verkniffenen Ausdruck an, mit dem sie mich bei unserer ersten Begegnung bedacht hatte. Ich sah ihr an, dass sie ihre Zweifel gegen meine unheimliche Ähnlichkeit mit meiner Mutter abwog.
»Madlyn hatte noch eine Tochter?«, fragte sie endlich. »Davon wusste ich nichts. Und ich glaube, das gilt für die meisten hier.«
Noch eine Tochter? Mira war scheinbar etwas begriffsstutzig. Dachte sie, Madlyn hätte zwei Töchter namens Hallie gehabt?
»Von einer anderen Tochter weiß ich nichts«, entgegnete ich langsam. »Mira, mein Name ist Hallie James. Aber die Insulaner kennen mich als Halcyon Crane.« Mein früherer, eigentlicher Name hallte wie eine Beschwörung in meinem Kopf wider.
Das Gesicht meiner Wirtin war rot angelaufen. »Aber Halcyon kam vor dreißig Jahren ums Leben!«
»Trotzdem sitze ich jetzt vor Ihnen. Glauben Sie mir, ich war genauso überrascht, wie Sie es jetzt sind.«
»Aber …« Sie suchte sichtlich nach Worten. »Der Unfall! Halcyon hat überlebt?« Ihre Gedanken überschlugen sich offenbar. »Wie ist das möglich? Ich war doch bei ihrer Beerdigung …«
Ich schüttelte den Kopf. »Es gab nie einen Unfall. Das Ganze war ein abgekartetes Spiel. Ich bin in Bellingham aufgewachsen, einer Kleinstadt nördlich von Seattle. Dort habe ich all die Jahre mit meinem Vater gewohnt. Und ich bin in dem Glauben aufgewachsen, meine Mutter wäre tot, ohne zu wissen, dass sie gesund und munter hier auf Grand Manitou lebte.«
»Bellingham.« Mira dachte fieberhaft nach. Allmählich dämmerte ihr, was geschehen sein musste. »Sie sind Halcyon. Madlyns und Noahs Tochter.«
Noah. Das eine Wort traf mich wie ein Schlag. Es war mir nie in den Sinn gekommen, Thomas James könne gar nicht Vaters richtiger Name sein, aber natürlich hatte er ihn nach unserer Flucht geändert. Das machte Sinn.
Ich nickte. »Das ist richtig.« Und dann erzählte ich ihr von Madlyns Brief, der meine ganze Welt über Nacht auf den Kopf gestellt hatte. »Ich habe es zuerst selbst nicht geglaubt. Aber sie hat Fotos mitgeschickt. Wie es aussieht, ist die Geschichte wahr.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Sie hat mir nie etwas gesagt«, murmelte Mira endlich und nippte an ihrem Kaffee. »Kein einziges Wort. Ich frage mich, wie um alles in der Welt sie Sie gefunden hat. Es war ja nicht so, dass sie all diese Jahre lang nach einem entführten Kind gesucht hat. Jeder hier hielt Sie für tot, Hallie.«
»Eine Freundin von ihr lebt in Seattle und
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