Insel der Schatten
wollte keine bösartigen Andeutungen machen oder das Andenken Ihres Vaters in den Schmutz ziehen. Was Sie in den letzten Wochen durchgemacht haben, wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht. Es ist nur so, dass wir die ganze Zeit geglaubt haben …«
»Danke, Mira. Aber ich weiß, was Sie geglaubt haben, und es ist nicht wahr! Es kann nicht wahr sein.«
»Wenn Sie meinen«, lenkte sie ein. »Aber wenn es wirklich nicht wahr sein sollte und er dieses arme Mädchen nicht getötet hat, warum ist er dann mit Ihnen geflohen?«
»Genau das muss ich herausfinden«, nickte ich bestätigend. »Wenn er den Mord nicht begangen hat und die Polizei ihn trotzdem verhaften wollte, weil alle Beweise gegen ihn sprachen, wäre das Grund genug zur Flucht gewesen. Aber vielleicht hingen seine Beweggründe ja gar nicht mit diesem Verbrechen zusammen!«
»Könnte eine andere Frau im Spiel gewesen sein?«, überlegte Mira.
»Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich«, erwiderte ich langsam. »Es gab nie irgendeine Frau in seinem Leben. Als ich auf der Highschool war, habe ich ihn immer dazu bringen wollen, mit den alleinstehenden Müttern meiner Freundinnen auszugehen, aber er hat stets abgelehnt. Er pflegte zu sagen, in seinem Leben hätte es eine einzige wahre Liebe für ihn gegeben, und das wäre genug für ihn.«
»Wenn das stimmt, warum hat er dann dieser ach so großen Liebe ihr Kind weggenommen?«, versetzte Mira eisig.
Ein Punkt für sie. Und plötzlich wusste ich ganz genau, was ich tun würde. »Nun, ich verfüge jetzt über die Zeit und die Mittel, das herauszufinden.« Entschlossen stand ich auf. »Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, Mira, aber wären Sie so nett, anschließend gleich meine Rechnung fertig zu machen? Madlyns Haus gehört jetzt mir, und ich werde dort einziehen. Heute noch.«
Meine Wirtin zog die Brauen hoch, nickte aber. »Wenn Sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich nur an mich, Hallie. Ich möchte genauso dringend wie Sie wissen, was damals wirklich passiert ist.«
Ich umarmte sie fest. »Danke, Mira! Ich komme auf Ihr Angebot zurück, das verspreche ich.«
Sie nahm meine Hände und drückte sie. »Hören Sie zu, irgendjemand muss aber auch den Suttons diese Neuigkeit überbringen!«
Der Gedanke, den Eltern der toten Julie gegenübertreten zu müssen, löste in mir ein Schwindelgefühl aus. »Könnten Sie das nicht übernehmen, Mira? Ich meine, ich kenne diese Leute nicht einmal! Vielleicht sollten sie es besser von jemandem hören, der ihnen vertraut ist.«
Sie nickte ergeben. »Ich werde noch heute zu ihnen hinübergehen.«
Nachdem ich meine Rechnung bezahlt hatte, sorgte ich dafür, dass mein Gepäck zu Madlyns Haus gebracht wurde. Dann lief ich den Hügel zur Stadt hinunter, weil ich dringend etwas Bewegung brauchte. Nach dem gestrigen Regensturm war es ziemlich abgekühlt, aber das machte mir nichts aus. Die frische Luft auf meinem Gesicht fühlte sich gut an – wie ein feuchter Waschlappen auf einem nach einem Weinkrampf verquollenen Gesicht.
Ich versuchte mich abzulenken, indem ich mir vorstellte, wie es auf Grand Manitou wohl im Sommer aussehen mochte, wenn es im Hafen von Fähren, Segelbooten und Jachten sicher nur so wimmelte, aber letztendlich konnte ich doch an nichts anderes denken, als an einen Vater und eine Tochter, die zusammen in ein neues Leben flohen, während die Eltern eines anderen Kindes unvorstellbares Leid ertragen mussten.
Die Stadt lag wie gestern schon vollkommen verlassen da. Sollte ich bei Will vorbeischauen? Oder in Jonahs Café? Oder doch zum Hafen vielleicht? Will setzte schließlich meinen Überlegungen ein Ende, indem er den Kopf aus der Tür seiner Kanzlei steckte.
»Hey!«, rief er mir zu. »Ich sah dich den Hügel hinunterkommen. Wie wäre es mit einem Kaffee?«
»Gern«, rief ich zurück, woraufhin er auf die Straße hinaustrat und die Tür hinter sich schloss.
»Wie hast du geschlafen?«, fragte er mich.
»Nicht gut.« Ich nahm meine Sonnenbrille ab, sodass er einen Blick auf die dunklen Schatten unter meinen Augen werfen konnte. »Ich habe einen fürchterlichen Morgen hinter mir. Ich habe Mira die Wahrheit gestanden und dafür einiges zu hören bekommen.«
»Das glaube ich dir gern.« Will bedachte mich mit einem breiten Grinsen, als er die Tür von Jonahs Café öffnete und wir ins Warme traten. »Du musst mir alles ganz genau erzählen. Aber sag mir erst, wie du deinen Caffè Latte trinkst.«
»Mit fettarmer Milch, einem Schuss
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