Insel der Schatten
hat in einer Lokalzeitung ein Bild von mir und meinem Vater gesehen«, erklärte ich. »Die Ähnlichkeit fiel ihr sofort auf und bewog sie, den Artikel an meine Mutter zu schicken.«
Mira nickte verstehend.
»Was am meisten an mir nagt, ist das Timing dieser ganzen traurigen Geschichte«, bekannte ich. »Ich habe mein Leben lang um meine Mutter getrauert, und sie war die ganze Zeit lang hier. Sie findet mich, und kurz darauf stirbt sie. Wir waren so kurz davor, uns wiederzusehen, und jetzt werde ich sie nie kennenlernen!«
Die Inhaberin des Manitou Inn griff nach meiner Hand. »Mir ist die Ähnlichkeit natürlich auch sofort aufgefallen, als ich Sie sah. Ich dachte, Sie wären eine Verwandte, eine Cousine vielleicht, aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist also entkommen. Wir hielten ihn alle für tot. Was müssen Sie all diese Jahre in der Gewalt dieses Monsters erduldet haben! Es tut mir ja so leid, Hallie.«
Ich kam in Versuchung, die Mitleidskarte auszuspielen. Es bot sich an, an Miras Mitgefühl zu appellieren, aber ich brachte es dann doch nicht über mich, um meines eigenen Vorteils willen meinen Vater zu verraten. »Er war kein Monster, Mira. Ich habe ihn über alles geliebt! Ich weiß, dass Sie mir das nicht glauben werden, aber er war der perfekte Vater.«
Das Verständnis in Miras Augen wich Kälte. »Wie bitte? ›Der perfekte Vater‹? Eine seltsame Bezeichnung für einen Mörder, der Sie von Ihrer Mutter getrennt und dafür gesorgt hat, dass alle ihn für tot halten.«
»Mira, bitte! Sie wissen doch gar nichts von unserem Leben! Wir standen uns sehr nah, und er war ein guter Mensch. Das weiß ich.«
»Hallie, Sie haben keine Ahnung, was dieser Mann getan hat!«
»Ich weiß ganz genau, was er getan hat und was nicht!«, rief ich. »Gestern habe ich zum ersten Mal vom Tod dieses Mädchens erfahren. Und wenn jemand sie nicht ermordet hat, dann mein Vater!«
»Das können Sie nicht wissen! Die Polizei …«
Würde es mir in Zukunft mit jedem einzelnen Inselbewohner so ergehen? Würde ich ständig das Andenken meines Dads verteidigen müssen? »Es ist mir völlig egal, was die Polizei meint, herausgefunden zu haben! Der Mann, der mich großgezogen hat, hat niemanden getötet!«
Mira schnaubte. »Erzählen Sie das mal den Suttons.«
»Das habe ich auch vor!«, zischte ich ärgerlich. »Ich werde genau das den Suttons klarmachen. Lassen Sie es gut sein, Mira! Der Tod von Julie tut mir sehr leid. Aber mein Dad hat sie nicht ermordet. Ich war schließlich dabei. Es war ein Unfall.«
Miras Augen wurden groß. »Sie haben gesehen, was geschehen ist? Das haben wir damals alle vermutet. Und deswegen hat er Sie getötet – oder Ihren Tod vorgetäuscht!«
»Ich kann mich leider nicht daran erinnern.« Auf meine Hände hinabblickend versuchte ich meine Fassung zurückzugewinnen. »Aber ich wünschte, ich könnte es. Ich erinnere mich nicht an mein Leben hier auf dieser Insel, nicht an die geringste Kleinigkeit. Das Ganze sieht nicht gut aus für meinen Vater, das gebe ich zu. Er hat mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von hier fortgebracht. Er hat unsere Namen geändert. Ist mir alles bekannt. Das Einzige, dessen ich mir sicher bin, ist, dass er der beste Vater war, den eine Tochter hätte haben können.«
»Sie können sagen, was Sie wollen, an den Tatsachen ändert das rein gar nichts«, gab sie unbeeindruckt zurück. »Diese Sache ist Angelegenheit der Polizei, Hallie! Mord verjährt nicht. Wenn die erfahren, dass Noah all die Jahre, wo er für tot gehalten wurde, in Wahrheit am Leben war …«
Plötzlich ging mir ein Licht auf. Mira wusste ja noch gar nicht, dass mein Vater vor kurzem gestorben war.
»Die Polizei wird diesen Fall nicht wieder aufrollen, Mira«, klärte ich sie auf. »Mein Dad lebt nämlich leider nicht mehr. Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen sagte, ich hätte zu Hause allerhand um die Ohren und eine schwere Zeit hinter mir? Das ist der Grund dafür. Er starb einen Tag, nachdem ich Madlyns Brief erhalten habe.«
»Noah ist tot?« Miras Augen schossen hin und her, als suche sie etwas, das sie nicht fand. »Also … das ist alles ein bisschen viel auf einmal! Ihr Vater war all die Jahre am Leben, und jetzt ist er gestorben? Und Sie haben Ihre Mutter die ganze Zeit für tot gehalten, während sie gesund und munter war. Das ist ja allerhand.«
»Ja, es war … ich war am Boden zerstört. Anders kann ich es nicht beschreiben.«
»Es tut mir so leid, Hallie! Ich
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