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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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erstaunlich gut aussehenden Jonah.
    »Hallo«, begrüßte er mich lächelnd, dabei fuhr er sich mit der Hand durch sein sandfarbenes Haar. »Schönes Wetter heute, was? Der Wind hätte mich beinahe von der Straße gefegt.«
    »Einen Pinot, Jonah?«, rief ihm der Barkeeper zu.
    Jonah sah mich mit hochgezogenen Brauen an. Pinot hörte sich gut an, also nickte ich zustimmend. »Dann bring uns gleich eine Flasche, Cal!«
    Der Wein war samtig und vollmundig, und ich spürte, wie ich mich augenblicklich entspannte, als der erste Schluck meine Kehle hinunterrann.
    »Sagen Sie mal, wer sind Sie eigentlich, Hallie James?«, begann Jonah nun ein Gespräch. »Wo kommen Sie her?«
    »Wissen Sie das etwa nicht?«, neckte ich ihn. »Ich dachte, ich bin das Hauptgesprächsthema der ganzen Insel.«
    »Das schon! Ich weiß, dass Sie Madlyns Tochter sind, und ich habe gehört, was alle über Sie und Ihren Vater reden. Aber was verrät mir das schon? Zwischen Ihrem Verschwinden und Ihrer Rückkehr liegt ein ganzes Leben. Darüber möchte ich etwas erfahren.«
    Am liebsten wäre ich über den Tisch gesprungen und hätte diesen Mann umarmt. Etwas Schöneres hätte er mir gerade gar nicht sagen können! Wenn doch nur mehr Leute auf Grand Manitou so denken würden wie er.
    »Also los! Wie hat Ihr Leben an der wilden Westküste so ausgesehen?«
    Während wir uns unterhielten, leerten wir den Wein und aßen dazu knuspriges Baguette mit warmem Artischockendip. Ich berichtete ihm von meiner Kindheit in Bellingham und beschrieb ihm, was für ein Mensch mein Vater gewesen war. Wie es war, als Tochter eines alleinerziehenden Vaters aufzuwachsen, und von meinen geliebten Seehunden, deren die Wellen des Sunds übertönendes Bellen mich immer so gut in den Schlaf gelullt hatte. Jonah schien all das brennend zu interessieren, er lauschte so gebannt, als würde ich ihm gerade die faszinierendste Biografie offenbaren, die er je gehört hatte. Ich musste zugeben, dass ich mich geschmeichelt fühlte.
    »Woran ist dein Vater denn gestorben, wenn ich fragen darf?« Er beugte sich zu mir und stützte das Kinn in eine Hand.
    »Früh ausgebrochener Alzheimer.« Ich blickte in mein Glas. »Die Krankheit hat ihn innerhalb von zwei Jahren dahingerafft, und eigentlich muss man das noch als Gnade betrachten. Aber eigenartigerweise betrauere ich nicht nur seinen Tod. Ich habe jeden einzelnen Tag um ihn getrauert, seit ich ihn in das Pflegeheim geben musste. Nein, eigentlich schon vorher, als sich die ersten Symptome zeigten. Ich habe meinen Dad schon vor langer Zeit verloren.«
    »Du musst dich während dieser Jahre sehr einsam gefühlt haben«, sagte Jonah mitfühlend.
    »Allerdings. Ich habe ihn auch jeden Tag nach der Arbeit im Heim besucht.« Ich seufzte, weil ich mich daran erinnerte, wie schmerzlich es gewesen war, einen Vater zu lieben, der mich nicht mehr erkannte.
    »Dein Vater hatte großes Glück, eine Tochter zu haben, die sich so aufopfernd um ihn kümmerte«, sagte Jonah, aber die Art, wie er es sagte, strafte seine Worte Lügen.
    Sein Gesichtsausdruck hatte sich zwar nicht verändert, seine Augen schimmerten immer noch strahlend blau, aber die Bemerkung hatte trotzdem ein wenig wie eine Anklage geklungen. Vielleicht weil mein Vater eine aufopfernde Tochter gehabt hatte und Julie Suttons Vater nicht mehr? So hörte es sich zumindest für meine Ohren an. Andererseits – Jonah musste ungefähr so alt sein wie ich, und er gehörte sicher nicht zu der Sorte von Insulanern, die immer noch einen Groll gegen meinen Vater hegte. Dennoch hing einen Moment lang eine dunkle Wolke zwischen uns, die sich erst wieder auflöste, als sich die Unterhaltung anderen Themen zuwandte.
    Wir verließen die Bar erst spät. Jonah fragte mich, ob ich noch auf einen Kaffee mit zu ihm kommen wolle – er wohnte über seinem Lokal, wie ich inzwischen erfahren hatte –, aber das hielt ich für keine gute Idee. Ich hatte zu viel Wein getrunken und zu wenig gegessen, was bei mir immer als Garantie für übereilte und später bitter bereute Entscheidungen galt.
    »Ich glaube, ich gehe lieber nach Hause«, lehnte ich deshalb ab. Ich musste mich auf seinen Arm stützen, als wir beide auf unsicheren Beinen die Straße hinuntergingen. Es regnete nicht mehr, und auch der Wind hatte nachgelassen, aber es war immer noch feucht und kalt.
    Ich zog meine Jacke enger um mich. »Können wir nicht von dir aus Henry anrufen?«
    Jonah schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Henry liegt schon

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