Insel der Schatten
aussahen. Was würde ich mit dem Haus anfangen? Es verkaufen? Oder in ein kleines Hotel umwandeln? Oder vielleicht auf Dauer hier leben? All das hoffte sie vermutlich im Rahmen eines vertraulichen Gesprächs aus mir herauszukriegen. Aber ich störte mich nicht daran. Ich freute mich darüber, Besuch zu bekommen, auch wenn dieser manchmal etwas übertrieben geschwätzig war.
Die nächste Stunde unterhielten wir uns angeregt, und Mira erzählte mir vieles, was ich über das tägliche Leben auf der Insel wissen musste. Donnerstags wurde der Müll abgeholt, die Weinbar auf der Hauptstraße war sonntags geschlossen, Henry wollte nicht mehr auf die andere Seite der Insel hinüberfahren, also sollte ich davon Abstand nehmen, ihn darum zu bitten … Im Gegenzug informierte ich sie darüber, dass ich mir über meine langfristige Zukunft noch nicht im Klaren war, aber vorerst hierbleiben wollte.
»Das sind ja erfreuliche Neuigkeiten! Wie schön, eine weitere Ms. Crane auf der Insel zu wissen«, frohlockte sie. Ehe Mira ging, versprach sie noch, sich irgendwann in der nächsten Woche mit mir zum Mittagessen zu treffen.
Nach ihrem Besuch fühlte ich mich gleich besser. Ich war keine völlig Fremde auf der Insel mehr. Ich kannte einige Leute, und sie kannten mich. Und ich würde donnerstags daran denken, meinen Müll hinauszustellen. Nach und nach würde ich beginnen, mich trotz meines damaligen rätselhaften Verschwindens und den unangenehmen Begegnungen mit den Einheimischen in Jonahs Café und Julie Suttons Mutter in die kleine, eingeschworene Inselgemeinde einzufügen.
Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Seit ich hier wohnte, hatte mich noch niemand angerufen, und während der wenigen Sekunden, die ich brauchte, um den Raum zu durchqueren und den Hörer abzunehmen, fielen mir prompt hundert Dinge ein, die ich zu regeln versäumt hatte. Rechnungen zu bezahlen vor allem. Ich wusste noch nicht einmal, ob Madlyn mit Öl, Propan oder Strom geheizt hatte. Also machte ich mir eine geistige Notiz, ihre Strom- und Wasserverträge auf meinen Namen umschreiben zu lassen und dafür zu sorgen, dass etwaige noch ausstehende Zahlungen umgehend beglichen wurden.
»Hallo?«, meldete ich mich etwas zaghaft. Will konnte nicht am anderen Ende der Leitung sein, mit ihm hatte ich schon am Morgen telefoniert, und er hatte mir mitgeteilt, dass er zum Festland hinüberfahren musste, um für einen Klienten ein paar komplizierte juristische Angelegenheiten zu regeln. Und Mira war gerade erst gegangen. Wer mochte der Anrufer sein?
»Hallo, Hallie James! Hier ist Jonah aus dem Café.«
Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. »Hallo, Jonah! Schön, dass Sie anrufen.«
»Ich weiß, das ist jetzt sehr spontan, aber ich schließe gleich, und ich dachte, es wäre nett, Sie auf ein Glas in der Weinbar auf der Hauptstraße zu treffen.«
Aus dem Haus zu kommen erschien mir plötzlich äußerst verlockend. »Klingt gut!«
»Ausgezeichnet. Treffen wir uns in einer Stunde?«
Nachdem ich die Hunde kurz über das Grundstück geführt und sie gefüttert hatte, griff ich nach meiner Jacke und vorsichtshalber auch nach meinem Regenschirm und begann den Hügel hinunterzumarschieren. Ich wusste nicht, ob und über was für ein Transportmittel Jonah verfügte, hoffte aber, dass er mich später nach Hause bringen konnte. Fiel diese Möglichkeit aus, konnte ich vermutlich immer noch Henry anrufen.
Gerade als ich das Städtchen erreichte, begann es zu regnen. Ich hastete in die Weinbar und schüttelte auf der Türschwelle meinen Schirm aus. Dann trat ich in einen behaglich eingerichteten Raum.
An den Wänden zogen sich kleine Sitznischen entlang, in der Mitte standen einige Tische. Vor einer massiven, mit kunstvollen Schnitzereien verzierten antiken Theke reihten sich mit schwarzem Leder bezogene Barhocker. Entlang der hinteren Wand verlief ein breiter Spiegel, darunter sah ich mit Flaschen gefüllte Regale. Kleine Wandlampen spendeten ein weiches, gelbes Licht, dazu flackerten auf jedem Tisch und auf der Theke Kerzen. Zwei Männer saßen an der Bar. Als ich hereinkam, drehte sich einer von ihnen zu mir um und lächelte. Ansonsten schien die Weinbar leer zu sein.
Ich setzte mich auf einen Hocker ganz am anderen Ende der Theke und genoss die friedliche Atmosphäre des Raumes. Draußen prasselte Schneeregen gegen die Fenster. Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet, und ein kalter Luftzug wehte herein, gefolgt von einem
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