Insel der Schatten
über die Schulter des Mannes und streckte die Zunge hinaus. Die Kamera schwenkte zum Objekt der Verachtung des Kindes. Ebenfalls ein kleines Mädchen, weiß gekleidet, mit langen, mit weißen Bändern gebundenen Zöpfen …
Mitten in meinem Aufschrei begriff ich, dass ich gerade aufwachte. Anscheinend war ich eingeschlafen und hatte von dem Mädchen geträumt, das ich vorhin vor meinem Fenster gesehen hatte.
Nachdem ich mir die Augen gerieben hatte, fiel mein Blick auf den Wecker. Fast halb neun. Die helle Morgensonne schien mir ins Gesicht.
Ich blieb noch einen Moment lang liegen und überlegte, ob ich aufstehen oder weiterschlafen sollte, doch dann ließ mich eine plötzlich aufflammende Erkenntnis kerzengerade im Bett hochschießen. Die Fenster! Gestern Abend hatte ich die Läden doch geschlossen, da war ich mir ganz sicher! Jetzt standen sie offen. Und sowohl der Fernseher als auch das Licht waren ausgeschaltet.
In meine Slipper schlüpfend sprang ich aus dem Bett, öffnete zögernd die Schlafzimmertür und spähte in den Flur hinaus, bevor ich das Zimmer verließ und die Hintertreppe zur Küche hinunterstieg. Zu meiner Verwunderung lief dort bereits die Kaffeemaschine. Auf der Theke stand ein Korb mit frischgebackenen Muffins, an meinem Platz am Küchentisch Joghurt und eine Schale mit Obst.
Iris natürlich. Hatte sie meine Fensterläden geöffnet und den Fernseher ausgeschaltet? Eine andere Erklärung gab es ja offensichtlich nicht. Da ich sie nirgendwo entdecken konnte, rief ich laut ihren Namen. So unheimlich sie auch manchmal wirkte, bot sie mir zumindest menschliche Gesellschaft, die ich nach dieser Nacht dringend gebrauchen konnte. Aber Iris antwortete nicht und ließ sich auch nicht blicken. Anscheinend hatte sie Kaffee und Frühstück gemacht und war dann wieder gegangen. Ich hoffe doch stark, dass sie das getan hatte und nicht jemand anders. Mit zitternden Händen goss ich mir etwas Kaffee ein und verfolgte dann die Morgennachrichten im Fernsehen. Dies war mein Haus, meine Küche, mein Kaffee. Kein Geist würde mich von hier vertreiben!
Mein Vater hatte mich gelehrt, rational und pragmatisch zu denken, aber mit Logik ließ sich die Anwesenheit eines kleinen Mädchens in einem weißen Kleid, das mitten in der Nacht vor meinem Fenster stand und mir ein seltsames Kinderlied ins Ohr sang, nicht erklären. Entweder trieb da jemand einen üblen Schabernack mit mir – aber wer? Und warum? – oder ich hatte es tatsächlich mit einem Geist zu tun. Iris war der einzige noch lebende Mensch, der mir sagen konnte, wie die Drillinge ausgesehen hatten, aber sie sollte erst Ende der Woche wiederkommen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie erreichen konnte. Andererseits war sie ja heute auch im Haus gewesen und hatte Frühstück gemacht. Vielleicht würde sie das morgen wieder tun?
Ich trank meinen Kaffee aus und ging ins Wohnzimmer hinüber. Irgendwo musste Madlyn doch Fotos von ihren Verwandten und Vorfahren aufbewahrt haben, schließlich lebten die Hills seit Generationen in diesem Haus. Also gab es mit Sicherheit auch ein paar alte Aufnahmen der Familie.
Ich suchte eine Weile herum und stieß dann tatsächlich auf ein paar Alben, die aber hauptsächlich Fotos jüngeren Datums enthielten. Madlyn und Freunde, Madlyn und Prominente, Madlyn und Politiker. Eine Weile blätterte ich diese durch, fasziniert davon, einen Einblick in die Welt meiner Mutter zu erhalten. Ich entdeckte sogar einen Schnappschuss von ihr, der sie Arm in Arm mit einem jungen Will zeigte. Seine hochaufgeschossene, schlaksige Gestalt wies ihn als ungefähr vierzehn aus. Will.
Tief in meinem Inneren krampfte sich etwas zusammen. Was mochte er wohl von mir denken, seitdem ich vor seinem Kuss wie in Panik zurückgescheut war? Ich wollte es mir auf keinen Fall mit ihm verderben; ich brauchte auf dieser Insel jeden Freund, den ich kriegen konnte, aber nachdem ich das, was er vermutlich für ein Date gehalten hatte, so abrupt beendet hatte, musste ich wohl den ersten Schritt tun, um die zwischen uns entstandene Kluft zu überbrücken. Vielleicht war er ja schon vom Festland zurück, und wir könnten heute zusammen zu Mittag essen? Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner Kanzlei.
»Hallo, Ms. Crane«, meldete er sich zu meiner Überraschung. Offenbar hatte er einen digitalen Anschluss und meine Nummer, also eigentlich Madlyns, gespeichert.
»Hast du keine Sekretärin?«, lachte ich. Allein der Klang seiner Stimme stimmte
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