Insel der Schatten
das Gelände unter mir nach dem ungebetenen Störenfried ab.
Hinter einem knorrigen Ast sah ich dann etwas in der Luft schweben. Vom Wind getragen tanzte und drehte es sich im Dunkeln. Seine weiße Oberfläche schimmerte im Mondlicht. Es war ein einzelnes Satinband.
Im selben Moment, in dem ich es sah, schien die Luft aus meinen Lungen zu entweichen wie aus einem angestochenen Ballon. Ich ließ mich auf die Bank in der Fensternische sinken. Mein Herz begann erneut wild zu hämmern, während mir tausend wirre Gedanken zugleich durch den Kopf schossen.
Und dann trat eine Gestalt hinter dem Baum hervor. Ein kleines Mädchen mit langen, blonden Zöpfen. An einem von ihnen fehlte das Schleifenband. Die Kleine blickte direkt zu mir hoch und lächelte.
Ich wagte nicht, mich zu rühren; ich konnte nicht glauben, was ich da sah: Ein kleines Mädchen im meinem Garten, mitten in der Nacht! Den Blick fest auf ihr lächelndes Gesicht geheftet, beobachtete ich, wie sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Ihre Lippen bewegten sich, und ich hörte eine leise Stimme, die mir so deutlich ins Ohr flüsterte, als stünde die Sprecherin direkt neben mir.
Dann wissen alle, groß und klein,
wir werden immer Freunde sein!
Ich gab einen Laut von mir, der aus meinem tiefsten Inneren zu kommen schien, ein so schauerliches, Furcht einflößendes Geräusch, das jedem, der sich in Hörweite befunden hätte, das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen. Nachdem ich haltlos aufgekreischt hatte, sprang ich auf und wirbelte herum, um mich zu vergewissern, dass nicht auch noch eine Spukerscheinung hinter mir lauerte. Tief durchatmend redete ich mir unaufhörlich ein, dass mir meine Fantasie gerade nur einen Streich spielte. Dann rannte ich quer durch den Raum und knipste das Deckenlicht an.
Im nächsten Augenblick war es taghell im Zimmer. Ich schlich zu den Fenstern hinüber und schloss nacheinander sämtliche Läden. Wenn das unheimliche Geschöpf noch immer dort draußen war, konnte ich es wenigstens nicht mehr sehen – und es mich auch nicht.
Dann wusste ich nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Die Polizei anrufen? Aber was konnte ich den Beamten schon erzählen? Dass mich ein kleines, mit einem Zopfband spielendes Mädchen in Todesangst versetzt hatte? Dass ich einen Geist gesehen hatte? Ich würde doch wie eine Idiotin dastehen!
Ich erwog, Will, Jonah oder Mira anzurufen, vermutete aber, dass keiner der drei sonderlich begeistert davon gewesen wäre, um drei Uhr morgens ohne einen triftigen Grund aus dem Schlaf gerissen zu werden. Und ich wollte die zaghafte Freundschaft, die sich zwischen mir und den drei Inselbewohnern anzubahnen begonnen hatte, nicht durch einen hysterischen Anruf mitten in der Nacht gefährden. Ich hatte Mira ja bereits durch meinen einen nächtlichen Ausbruch in der Pension erschreckt und auch vor Jonah eine filmreife Vorstellung von Verfolgungswahn bezüglich des Mannes in der Kutsche neulich nachts hingelegt. Nicht mehr lange, und ich würde überall als die Verrückte gelten, die sich einbildete, jedermann wäre hinter ihr her. Trotz meiner Angst wollte ich derartigen Gerüchten weiß Gott nicht weiteren Nährstoff liefern. Was hieß, dass ich ganz allein auf mich gestellt war.
Am ganzen Körper zitternd kroch ich ins Bett zurück und griff nach der Fernbedienung des Fernsehers. Ich zappte mich durch die Kanäle, bis ich auf die Wiederholung einer alten Krimiserie stieß, von der ich früher keine Folge verpasst hatte. Sehr schön.
Als diese eine halbe Stunde später zu Ende war, schaltete ich erneut von Kanal zu Kanal und sah mir den nächstbesten Film an. Der gerade über den Bildschirm flimmernden Szene haftete etwas Vertrautes, Tröstliches an, weshalb ich hier wohl unbewusst hängengeblieben war: blauer Himmel, auf einer Leine flatternde Wäsche, ein Kind, das sich vergnügt im grünen Gras herumrollte.
Doch plötzlich krümmte sich die Kleine, als leide sie unter starken Schmerzen. »Aua!«, quiekte sie. »Hör auf damit!« Sie sprang auf und lief von der Wäscheleine fort. »Lass mich in Ruhe!« Mit einem Aufschrei stürzte sie rücklings ins Gras, als sei sie gestoßen worden. »Hör auf! Ich mag dich nicht!«
»Na, Mausezahn«, ertönte plötzlich eine Stimme, und ein Mann kam ins Bild. »Was hat mein Mädchen denn?« Er schwang das Kind auf seinen Arm und tröstete es. »Jetzt ist doch alles wieder gut! Jetzt bin ich ja da.«
Als die beiden davongingen, spähte das Mädchen noch einmal
Weitere Kostenlose Bücher