Insel der Schatten
Einkaufsbummel machen. Wir fanden dort schließlich in einem Hotel Unterschlupf – die Schneewehen türmten sich so hoch, dass wir nicht mal mehr aus den Fenstern des ersten Stockes sehen konnten! Hätte ich meine Mutter nicht begleitet, hätte ich sicher draußen mit den Mädchen gespielt und das gleiche Schicksal geteilt, aber mein Leben wurde verschont.«
Ich blickte aus dem Fenster. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, seit Iris mit ihrer Geschichte begonnen hatte, aber mir schien, dass der graue Tag bereits in einen grauen Abend überging.
Mein Gegenüber räusperte sich und stand auf. »Das reicht für heute, denke ich.« Sie trug ihre Tasse zur Spüle hinüber, wusch sie ab und rieb sie mit einem Geschirrtuch trocken. »Ich gehe jetzt und komme am Mittwoch wieder. Vielleicht kann ich dann dort fortfahren, wo wir heute aufgehört haben, wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin. Es gibt noch viel zu erzählen! Und Sie werden noch interessante Dinge … sehen.«
»Sie sind wirklich eine begnadete Erzählerin«, lobte ich.
Iris nahm das Kompliment sichtlich geschmeichelt entgegen. Sie zog ihren Mantel an, setzte ihren Regenhut auf und ging zur Hintertür. Ich hatte ein ungutes Gefühl dabei, sie allein durch den Regen laufen zu lassen, aber ich konnte sie nicht nach Hause bringen, denn ich verfügte über keinerlei Transportmittel.
»Soll ich Sie begleiten, Iris? Sehen, dass Sie heil nach Hause kommen?«, erbot ich mich, aber sie schüttelte abwehrend den Kopf.
»Das ist nicht nötig. Ich bin diese Straßen schon lange vor Ihrer Geburt entlanggegangen, ich kenne jeden einzelnen Stein.«
Daraufhin brachte ich sie zur Tür, wo ich ihre schmale Gestalt behutsam umarmte. »Vielen Dank! Sie wissen gar nicht, was es für mich bedeutet, endlich etwas über meine Familie zu erfahren.«
»Oh, ich glaube, das verstehe ich sehr gut, Kind«, lächelte sie. »Wirklich sehr gut.«
Ich sah ihr nach, wie sie die Auffahrt hinunterschritt und in der Dämmerung verschwand. Dann schloss ich die Tür, unfähig, die klamme Feuchtigkeit zu vertreiben, die von draußen hereinkam.
14
Später am Tag saß ich am Feuer, ließ alles, was Iris mir erzählt hatte, noch einmal in Gedanken an mir vorbeiziehen, starrte in die Flammen und grübelte über diese seltsame Geschichte nach. Die Geschichte meiner Familie.
Mein Vater hatte mit mir nie über seine eigenen Verwandten und schon gar nicht über die meiner Mutter gesprochen. Jetzt kannte ich endlich das, was man als familiären Hintergrund bezeichnete. Hannah und Simeon Hill, meine Urgroßeltern. Als ich mich im Raum umblickte, dachte ich daran, dass sie dieses Haus gebaut und hier eine Familie gegründet hatten. Dass sie diese wieder verloren und es dann irgendwie geschafft hatten, sich ein neues Leben aufzubauen. Und hier saß ich nun, eine Frau, in der ihre Gene weiterlebten und in deren Adern ihr Blut floss, und war in das Heim meiner Vorfahren zurückgekehrt. Trotz des frostigen Empfangs, den mir manche Leute hier auf der Insel bereitet hatten, fühlte ich plötzlich, dass ich hierhergehörte.
Der Tag ging zu Ende, die Nacht brach herein, und ich kroch unter meine Decke und wollte gerade die Augen schließen, als mir zwei Gedanken durch den Kopf schossen. Zwei so verwirrende Gedanken, dass ich mich mit einem Ruck wieder aufsetzte. Iris hatte gesagt, sie sei ein Kind gewesen, als die Mädchen starben, und sie habe sie gekannt. Aber die Drillinge waren im Jahre 1913 gestorben. Wie alt war Iris denn bitteschön?! Als ich mich gerade ein wenig zu beruhigen begann – gut, dann war sie eben steinalt, so etwas kam schließlich vor –, setzte sich der zweite Gedanke in meinem Kopf fest. So deutlich, als wäre ich damals selbst dabeigewesen, hörte ich mit einem Mal, was Martine an dem Tag, an dem Hannah sie um Hilfe bat, zu ihr gesagt hatte.
Wenn du diese Kräuter benutzt, beschwörst du gewisse Mächte, die dir zu Kindern verhelfen, obwohl es gegen die Absichten der Natur verstößt. Was du tust, lässt sich nicht wieder rückgängig machen. Jedes Kind, das auf diese Weise, durch Hexerei, wie du es nennst, empfangen wird, ist unberechenbar. Du kannst einen Dämon, einen Engel oder irgendetwas dazwischen bekommen, das lässt sich nicht vorhersagen.
Ich hatte Martine aus Iris’ Erzählung für eine Frau gehalten, die genug über Kräuter und Pflanzen wusste, um Umschläge und Heiltränke gegen die verschiedensten Krankheiten herstellen zu können. Damals
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