Insel der Schatten
angehen lassen.«
»Sie hat eben ihren Stolz.«
»Ja, das wird es wohl sein«, bestätigte ich. »Sie erhebt gewissermaßen Besitzansprüche auf dieses Haus, und das nicht ganz zu Unrecht. Sie ist hier aufgewachsen.«
Wir saßen einen Moment schweigend da, dann fuhr ich fort: »Du wirst sie ja irgendwann zu sehen bekommen. Iris ist das unheimlichste lebende menschliche Wesen, das ich kenne.«
»Inwiefern?«
»Es liegt irgendwie an ihrem Auftreten. Und an ihrem Äußeren«, grübelte ich laut. »Sie könnte einem Gruselfilm entsprungen sein: finstere Miene, aschfahle Haut. Sie trägt immer ein langes schwarzes Kleid und fasst ihr weißes Haar auf dem Kopf zu einem Knoten zusammen. Und sie kommt und geht, wie es ihr passt. Ich stehe morgens auf und stelle fest, dass sie im Haus herumgeschlichen ist, während ich geschlafen habe. Sie war auch heute hier unten in der Küche, während wir … oben waren.«
»Scheint ja wirklich eine reizende Frau zu sein«, lachte Will.
»Zumindest lässt sie immer etwas Essbares zurück.«
Nach dem Essen gingen wir wieder nach oben, sahen uns einen Woody-Allen-Film an und kuschelten uns dann unter die Decken. In Wills Armen schlief ich besser, als ich es während meines gesamten Aufenthalts auf der Insel bisher getan hatte – keine Geisterbesuche, keine Albträume, keine unheimlichen Vorkommnisse.
Am nächsten Morgen saßen wir am Küchentisch und tranken Kaffee, als Wills Handy klingelte. Nun holte uns das Leben in Gestalt eines Klienten vom Festland in unserem Liebesnest ein. Ich hatte gedacht, wir würden den Tag zusammen verbringen.
»Die Pflicht ruft.« Er gab mir einen Abschiedskuss. »Es steht eine Besprechung an. Damit hatte ich zwar nicht gerechnet, aber es hilft nichts, ich muss jetzt in die Kanzlei.«
»Faule Ausreden. Das sagen sie doch alle«, schmollte ich.
Er blieb stehen und zog mich in die Arme. »Essen wir heute Abend zusammen?«
»Ich koche uns etwas«, versprach ich. »Meine berühmte englische Fleischpastete. Du wirst sie lieben!«
»O Gott, ich wusste, dass du früher oder später versuchen würdest, mir die britische Küche schmackhaft zu machen«, grinste er, dann verabschiedete er sich.
Kurze Zeit später trat ich aus der Duschkabine und hörte ein leises Surren. Jemand saugte unten Staub. Ich zog mich an und ging hinunter, um Iris zu begrüßen.
Sie musterte mich finster. »Sie hatten heute Nacht Besuch?«
Ich war mir nicht sicher, ob sie auf ihre eigenartige, gewöhnungsbedürftige Art Konversation treiben oder mir zu verstehen geben wollte, dass sie Wills nächtliche Anwesenheit missbilligte. Wie dem auch sein mochte – es ging sie nichts an.
»Ja«, erwiderte ich ein wenig zu laut über den Lärm des Staubsaugers hinweg. »Es war William Archer, und ich hoffe, dass er in Zukunft noch oft hier übernachten wird.«
»Sie müssen wissen, was Sie tun«, murmelte Iris düster, dann würdigte sie mich keines Blickes mehr, sondern widmete sich wieder ihrer Arbeit.
Ich stand schon im Begriff, ihr eine geharnischte Predigt über das Respektieren der Privatsphäre anderer Leute zu halten, besann mich dann aber eines Besseren. Vielleicht konnte ich Iris ja heute noch einmal überreden, sich zu mir zu setzen und die Vergangenheit aufleben zu lassen. Und ich hätte schwören können, dass ein Lächeln über ihr aschfahles Gesicht huschte, als ich an ihr vorbei in den Wintergarten ging. Ein Lächeln, das besagte, dass sie sich ihrer Macht nur allzu deutlich bewusst war.
18
Ich pfiff nach den Hunden, und wir gingen zusammen hügelabwärts zum Supermarkt, um die Zutaten für das heutige Abendessen und Vorräte für die nächste Woche einzukaufen. Es war ein schöner, klarer Tag mit strahlend blauem Himmel, und ich stellte fest, wie gut es mir tat, mal aus dem Haus zu kommen. Die Hunde rannten bellend vor mir her, entfernten sich aber nie zu weit von mir.
Ich hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, dass der Supermarkt für Kunden, die über kein eigenes Transportmittel verfügten, einen Lieferservice anbot. Man suchte sich das Gewünschte zusammen, bezahlte, und eine halbe Stunde später wurde es bis vor die Tür gebracht. Ich war für dieses Angebot zutiefst dankbar, als ich gemächlich durch die Gänge schlenderte und die Zutaten für die Fleischpastete und die Wildreissuppe, die es als Vorspeise geben sollte, sowie Käse, Obst, Cracker und Wein in meinen Einkaufswagen legte.
Sowie ich alles erstanden hatte, was ich brauchte, verließ ich das
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