Insel der Schatten
Geschäft und rief die Hunde. Einen Moment später sah ich zu meinem Entsetzen Julie Suttons Eltern auf der anderen Straßenseite stehen.
Da ich auf eine weitere Auseinandersetzung mit diesen Leuten keinen Wert legte, versuchte ich mich um das Gebäude herumzudrücken und in einer Seitengasse zu verschwinden, aber es war bereits zu spät.
»Halcyon! Warten Sie bitte!«, erscholl es hinter mir.
Verdammt! Ich drehte mich um und stellte fest, dass die beiden gerade die Straße überquerten und direkt auf mich zuhielten, also nahm ich all meinen Mut zusammen und wappnete mich gegen neue heftige Anschuldigungen. Aber dazu kam es seltsamerweise gar nicht.
»Guten Tag, Halcyon, ich bin Frank Sutton. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an mich.« Julies Vater streckte mir eine Hand hin. »Meine Frau June kennst du ja schon.«
Ich nickte und dabei fragte ich mich, worauf das alles wohl hinauslaufen würde.
»Wissen Sie, ich schäme mich entsetzlich für mein schlechtes Benehmen neulich. Ich bin ja wie eine Furie auf Sie losgegangen, obwohl Sie überhaupt keine Schuld trifft.« June Suttons Augen schwammen in Tränen. »Ich hatte kein Recht, so mit Ihnen zu sprechen, und möchte mich aufrichtig dafür entschuldigen.«
Ich drückte tröstend ihre Hand. »Ich habe nur eine vage Vorstellung davon, was Sie damals durchgemacht haben müssen, und ich kann Ihnen versichern, dass ich von dieser furchtbaren Geschichte erst erfahren habe, als ich auf die Insel kam.«
»Ich weiß«, erwiderte June leise. »Ich hätte meinen Kummer und meine Wut nicht an Ihnen auslassen dürfen. Es ist nur so … jetzt auf einmal, nach all diesen Jahren, kommt alles wieder hoch, und …«
Da ich sah, dass sie erneut kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen schien, versicherte ich ihr hastig: »Ich schlage vor, wir vergessen diesen kleinen Zwischenfall einfach und sprechen nicht mehr davon! Es ist doch alles schon schlimm genug, auch ohne dass wir uns gegenseitig das Leben schwer machen.«
Die Suttons nickten einvernehmlich, und dann trennten sich unsere Wege auch schon wieder. Und ich war entschlossener denn je, herauszufinden, was ihrer Tochter wirklich zugestoßen war.
Von diesem Gedanken beherrscht, lief ich durch die Straßen, bis ich endlich abseits der Hauptstraße in einem alten zweistöckigen Backsteingebäude das fand, wonach ich suchte. Die Polizeiwache.
Ich holte tief Atem, stieß die Tür auf und erblickte einen in Papierkram vertieft an seinem Schreibtisch sitzenden Beamten. Er hob den Kopf, als ich eintrat.
»Guten Tag, ich wollte fragen, ob die Möglichkeit besteht, die Akten eines alten, abgeschlossenen Falles noch einmal einzusehen.«
Der Polizist blinzelte mich an. Ich war mir nicht sicher, ob er wusste, wer ich war, oder nicht.
»Und um welchen Fall geht es?«
»Nun«, begann ich, »es handelt sich um etwas, das vor ungefähr dreißig Jahren hier auf der Insel passiert ist …«
Ehe ich weitersprechen konnte, schnitt er mir das Wort ab. »Sie sind Halcyon Crane.« Seine Miene verfinsterte sich.
Ich nickte und stützte die Hände auf die Theke. »Das ist richtig. Ich bin hier, weil ich gerne einen Blick in die Berichte über den Fall Julie Sutton werfen möchte. Ist das möglich?«
»Den Mordfall Julie Sutton«, berichtigte er mich.
»Nun … ja.« Ich spürte die Feindseligkeit, die mir entgegenschlug. Scheinbar reizte die bloße Erwähnung dieses Falls mein Gegenüber bis aufs Blut.
Nun schüttelte er auch prompt den Kopf. »Tut mir leid, das geht nicht.«
Da ich mir nicht eingebildet hatte, so mir nichts, dir nichts in eine Polizeiwache zu stapfen und diese fünf Minuten später mit den gewünschten Akten in der Hand wieder zu verlassen, war ich auf eine Auseinandersetzung vorbereitet.
»Sind denn die Akten abgeschlossener Fälle nicht der Öffentlichkeit zugänglich?« Ich hatte keine Ahnung, ob dem tatsächlich so war, aber einen Versuch war es wert.
Der Beamte nickte. »Eigentlich schon, aber dieser Fall gilt nicht als abgeschlossen.«
»Aber …« Mir schwirrte vor Verwirrung der Kopf. »Diese Ereignisse liegen dreißig Jahre zurück, und der Tatverdächtige ist tot! Vielleicht haben Sie noch nicht gehört, dass mein Vater vor ein paar Wochen gestorben ist?«
»Tot oder lebendig, das ändert nichts an der Sachlage«, erklärte mir der Mann gelangweilt. »Fakt ist, dass die Ermittlungen noch laufen.«
»Ich verstehe nicht ganz. Gibt es einen neuen Tatverdächtigen, oder wie?«
Der Polizist
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