Insel der Schatten
schüttelte den Kopf. »Ein Mordfall gilt erst als abgeschlossen, wenn er gelöst ist. Seit dem Tod Ihres Vaters – beziehungsweise seit seinem Verschwinden vor dreißig Jahren – haben wir den Fall nicht weiter verfolgt. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir ihn zu den Akten gelegt haben.«
»Also besteht für mich keine Möglichkeit, Einblick in die betreffenden Unterlagen zu nehmen?«
»Leider nein.« Mit diesen Worten konzentrierte er sich wieder auf die Papiere vor ihm auf dem Tisch oder tat zumindest so.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich geschlagen zu geben. Ich griff nach meiner Tasche und trat wieder in den Sonnenschein hinaus. »Die Schlacht ist verloren, der Krieg noch lange nicht«, murmelte ich grimmig vor mich hin.
Als ich nach Hause kam, sah ich, dass Iris mir ein paar Reste zum Mittagessen aufgewärmt hatte: Rippchen, Brot und einen Teller Eintopf vom Tag zuvor. Sie selbst stand am Herd, als ich mit den Hunden durch die Hintertür hereinkam.
»Wollen Sie mir nicht beim Essen Gesellschaft leisten, Iris?«
»Nein, danke. Ich habe bereits gegessen.« Sie stellte eine dampfende Tasse Tee vor mich hin, von der ein Duft aufstieg, den ich nicht kannte – ein seltsamer, würziger Geruch nach Erde, Moos und Kräutern.
»Die Spezialmischung Ihrer Mutter.« Iris lächelte bei der Erinnerung. Verblüffenderweise setzte sie sich nun doch zu mir an den Küchentisch; ein Zeichen dafür, dass sie mit ihrer Geschichte fortzufahren gedachte.
»Ich habe Ihnen doch neulich erzählt, dass Hannah dank ihrer inneren Kraft und ihrer Willensstärke über den Verlust ihrer Töchter hinwegkam«, begann sie. »Aber ganz so war es nicht. Ja, es stimmt, sie hat ihr Leben weitergelebt, und sie und Simeon bekamen ein weiteres Kind: Ihren Großvater Charles Hill. Er lebte und starb in diesem Haus. Aber das ist eine andere Geschichte.«
Ich biss in ein Rippchen und kaute langsam, während Iris fortfuhr.
»Obwohl Hannah rein äußerlich den furchtbaren Schicksalsschlag überwunden zu haben schien, litt sie insgeheim noch fürchterlich, und so kam es, dass sie eines Tages eine große Dummheit beging. Ihr ging es wohl, wie es jeder anderen Mutter in ihrer Lage auch ergangen wäre: Sie drohte an dem Verlust ihrer Töchter zu verzweifeln. Aber der Unterschied zwischen ihr und anderen bestand darin, dass Hannah ihre drei Mädchen nur mithilfe der Hexe aus dem Sommertal empfangen hatte. Dessen war sie sich jede Sekunde ihres Lebens bewusst.«
Ich spürte, wie mir der altvertraute kalte Schauer über den Rücken lief.
Iris’ Augen verdunkelten sich. »In den Wochen nach dem Tod der drei befand sich Hannah am Rande des Wahnsinns. Sie war überzeugt davon, dass ihre Töchter zwar nicht mehr körperlich anwesend waren, sich aber dennoch immer noch in ihrer Nähe aufhielten. Und im Haus gingen seltsame Dinge vor sich: eine Uhr fiel vom Kaminsims, Gläser zerbarsten, Türen öffneten und schlossen sich wie von Geisterhand. Hannah kam zu dem Schluss, dass Persephone, Patience und Penelope hinter alldem steckten und folgerte zu ihrem Entsetzen daraus, dass ihre geliebten Töchter irgendwo zwischen dem irdischen und dem himmlischen Leben nach dem Tod gefangen waren, und sie verzehrte sich fast vor Sorge um sie.«
»Was hat denn Simeon dazu gesagt?«, unterbrach ich.
»Simeon?« Iris schnaubte leise. »Er war ein guter Mann, das lässt sich nicht leugnen, aber er war durch und durch ein Kopfmensch. Er glaubte nicht an Geister oder Besucher aus dem Jenseits. Für die seltsamen Vorfälle gab es seiner Meinung nach immer eine logische Erklärung.
Und Sie dürfen nicht vergessen, dass er von Hannahs Besuch bei Martine ja keine Ahnung hatte und somit auch nicht wusste, dass seine Töcher das Ergebnis eines Zaubertranks waren.
Trotzdem suchte er eines Tages heimlich den Inselpfarrer auf, einen frommen Missionar, der für niemanden groß Verständnis aufbrachte, der sich nicht strikt an die Lehren der Kirche hielt und danach lebte. Simeon konsultierte auch Hannahs Arzt, der zu einer medikamentösen Behandlung und sogar zu einer vorübergehenden Einweisung in eine Anstalt riet, wenn sich Hannahs Hysterie nicht bald von selbst legen würde. Aber Simeon wartete ab, beobachtete seine Frau scharf und ging mit äußerster Behutsamkeit mit ihr um.
Eines Nachmittags, als Simeon bei der Arbeit war, sattelte Hannah ihr Pferd und ritt auf die andere Seite der Insel hinüber. Sie wurde immer wieder von zahlreichen Fragen gequält und
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