Insel der Schatten
ihn gehen. Einen Moment lang stand ich regungslos da und fragte mich, was ich da gerade getan hatte.
Es regnete auch noch den Rest des Nachmittags. Ich versuchte, mir die Zeit mit Lesen und Fernsehen zu vertreiben und spielte mit den Hunden, aber während der ganzen Zeit kreisten meine Gedanken um Will. Und den Ausdruck, den ich in seinen Augen gelesen hatte, kurz bevor er gegangen war. Ich versuchte mehrmals, ihn anzurufen, erreichte aber immer nur die Mailbox.
Dann nahm ich das Telefon mit ins Wohnzimmer, berechnete rasch die Zeitverschiebung, sank in einen Sessel und wählte Richards Nummer.
»Das wurde aber auch Zeit!«, erklang es bald darauf eine halbe Welt entfernt am anderen Ende der Leitung, und ich fühlte mich schon allein beim Klang seiner Stimme besser.
»Ich habe mir furchtbare Sorgen um dich gemacht, Hallie! Und jetzt erzähl mir alles, und wenn ich alles sage, meine ich das auch.«
Ich ließ mich nicht lange bitten. Ich erzählte ihm von dem Haus und den Hunden und Iris, von Jonah und Mira und von der Insel. Ich erzählte ihm, dass ich die Alleinerbin meiner Mutter war und doch so wenig von ihr wusste. Ich beschrieb ihm Iris’ sauertöpfisches Gebaren und lachte sogar darüber, erzählte ihm von dem Kindersingsang, den ich andauernd hörte, und von den seltsamen Vorfällen hier im Haus und im Manitou Inn. Zuletzt erzählte ich ihm von Julie Sutton.
»Das klingt ja wie ein Schauerroman, findest du nicht? Ein großes altes Haus, schlechtes Wetter, ein ungelöster Mordfall, mysteriöse Begegnungen mit Geistern, verschlossene Einheimische, und sogar die unheimliche alte Jungfer fehlt nicht!«
»Ja ja, schon recht«, stimmte ich ihm lachend zu. »Aber das Haus ist einfach überwältigend, Richard! Du musst irgendwann mal herkommen und es dir ansehen.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Ich hörte das leise Klirren seines Teelöffels auf dem Boden einer Tasse.
»Hallie …«, begann er, ohne mit dem Umrühren innezuhalten, so wie er es immer tat, wenn er Zeit schinden wollte und nicht wusste, wie er etwas in Worte fassen sollte. Endlich kam es. »Was hast du ausgelassen? Ich weiß, dass du mir etwas verschweigst.«
Ich zögerte kurz, dann entschloss ich mich zur Wahrheit. »Na schön. Ich habe jemanden kennengelernt, und ich fürchte, ich habe alles vermasselt.«
»Aha. Das ist also der wahre Grund für deinen Anruf. Das ganze Geistergerede war nur die Einleitung.«
Ich konnte ein leises Schuldgefühl nicht unterdrücken – ich hätte ihn wirklich schon viel früher anrufen sollen, so wie ich es versprochen hatte. »Ach Richard, ich brauche dringend jemanden zum Reden! Jemanden, der mich kennt und den es nicht aus der Fassung bringt, dass ich das Ebenbild einer Toten bin.«
Das entlockte ihm ein Kichern. »Na, dann passt du doch hervorragend in diese Welt voller spukender Mädchen und verwunschener Häuser, oder etwa nicht?«
»Endlich habe ich einen Platz gefunden, wo ich hingehöre, meinst du?«
»Ganz genau, du Geistermaid«, lachte er. »Und jetzt erzähl mir von ihm. Wer ist er, und was hast du getan?«
»Er ist der hiesige Anwalt«, begann ich. »Als Kinder waren wir befreundet.«
»Der Anfang klingt schon mal vielversprechend. Weiter.«
»Wir haben viel Zeit miteinander verbracht – er war der Anwalt meiner Mutter. Er ist auch derjenige, der sich zuerst mit mir in Verbindung gesetzt hat. Wir verstehen uns wunderbar, fast, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Man kann so gut mit ihm reden …«
»Und?«
»Nun, er ist in fast jeder Hinsicht ein Traummann«, gab ich sowohl Richard als auch mir selbst gegenüber zu. »Er ist klug, einfühlsam, witzig und geistreich, und wir mögen dieselben Dinge. Ich weiß nicht … Er ist einfach genau der Richtige! Außerdem sieht er auch noch fantastisch aus. Es gibt nicht das Geringste an ihm auszusetzen, nur … als er mich dann küssen wollte, bin ich innerlich erstarrt.«
»Wie meinst du das, ›innerlich erstarrt‹?«
»Ich meine, alles in mir hat auf Abwehr geschaltet. Ich konnte mich nicht auf ihn einlassen.«
»Warum denn nicht?«
Ich dachte einen Moment darüber nach. »Ich kann es nicht genau sagen. Wir hatten bei unserem Picknick gerade so viel Spaß! Und dann fing es an zu regnen. Wir rannten ins Haus, und …«
»Das hört sich doch nach dem perfekten Beginn einer Romanze an, Hallie!«
»Das war es auch! Nur …«
»Was? Die richtige Kulisse, aber der falsche Hauptdarsteller? Hat die Chemie nicht
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