Insel der Schatten
kannte nur einen Menschen, der sie ihr beantworten konnte.«
»Martine«, warf ich ein.
Iris nickte. »Obwohl Hannah sie vor fast neun Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, wurde sie von der Medizinfrau bereits erwartet. Hannah erzählte Martine die ganze tragische Geschichte; berichtete, dass ihre Töchter im Schneesturm umgekommen waren, ihre Stimmen sie, Hannah, aber irgendwie zu ihrem Haus zurückgeführt hatten, sodass ihr selbst das furchtbare Schicksal der Drillinge erspart geblieben war.
›Ich glaube, dass die Mädchen noch bei mir im Haus sind‹, schloss sie schließlich.
›Woher willst du das wissen?‹ Martine reichte ihr geistesabwesend eine Tasse Tee.
Hannah trank einen großen Schluck des Gebräus. ›Ich spüre ihre Gegenwart, ganz in meiner Nähe. Und im Haus haben sich seltsame Dinge ereignet. Gläser sind zerbrochen, eine Uhr ist zu Boden gefallen und Türen öffnen und schließen sich von selbst.‹
›Aber sie haben keinen Kontakt mit dir aufgenommen? Sie haben seit ihrem Todestag nicht zu dir gesprochen?‹
›Nein‹, gab Hannah zu. ›Aber ich bin trotzdem sicher, dass sie bei mir sind.‹
Sie begann sich schwindelig und benommen zu fühlen, so als wären ihre Gedanken plötzlich nicht mehr ihre eigenen. Die Grenzen der Realität schienen zu verschwimmen, die Welt ringsum löste sich in Nichts auf, bis sie nur noch das Gesicht der alten Hexe vor sich sah.
›Was willst du von mir, Hannah Hill?‹
›Ich möchte mit meinen Töchtern sprechen. Ich möchte ihnen sagen, dass es mir gut geht, und ich möchte wissen, wie es ihnen geht.‹
›Die Seelen der Toten darf man nicht leichtfertig beschwören‹, warnte Martine. ›Und noch gefährlicher ist es, die Geister von Toten zu rufen, die ihr Leben einem Zauber verdankt haben.‹
›Warum?‹
›Indem du sie rufst, lädst du sie dazu ein, in dieser Welt zu bleiben. Bist du darauf vorbereitet?‹
›Sie sind meine Töchter!‹, beharrte Hannah. Ihr Kopf wurde schwer, fühlte sich an wie mit Watte gefüllt. ›Ich weiß nicht, ob ihnen etwas fehlt, ob ich irgendetwas für sie tun kann. Aber ich will es wissen. Ich muss es wissen!‹
›Bist du dir ganz sicher?‹, fragte Martine eindringlich.
›Ja‹, murmelte Hannah.
›So sei es denn! Ich werde zu dir kommen, wenn dein Mann nicht daheim ist. Gemeinsam werden wir die Mädchen rufen, und du erhältst, was du dir wünschst.‹«
Während ich der Geschichte lauschte, begann etwas an mir zu nagen. »Iris«, unterbrach ich sie. »Woher wissen Sie das eigentlich alles? Wie können Sie wissen, was Hannah und Martine miteinander besprochen haben?«
Sie schien sich über meine Zwischenfrage zu ärgern. »Hören Sie mir einfach nur zu, Halcyon! Zu gegebener Zeit wird Ihnen das alles klar werden. Und jetzt unterbrechen Sie mich bitte nicht noch einmal.«
Ich lehnte mich zurück und murmelte eine Entschuldigung, während Iris sich räusperte, einen Schluck Tee trank und dann den Faden wieder aufnahm.
»Hannah dankte Martine und verabschiedete sich. Erst als sie sich schon weit von dem Haus der Medizinfrau entfernt und tief im Wald befand, fiel ihr ein, dass sie Martine gar nicht um das gebeten hatte, was ihr am meisten am Herzen lag: Die Hexe sollte ihr helfen, den Mädchen den Weg in den Himmel zu ermöglichen. Aber das machte nichts. Martine hatte ihr versprochen, dass sie mit ihren Töchtern sprechen würde!
Die Minuten wurden zu Stunden und schließlich zu Tagen, während Hannah ungeduldig auf ihren Besuch wartete. Jeden Tag, nachdem Simeon zur Arbeit aufgebrochen war, saß sie erwartungsvoll in der Küche, genau hier an diesem Tisch, und starrte auf die Straße hinter dem Haus hinaus.« Iris deutete mit einem arthritischen Finger auf das Fenster hinter mich.
Ich rutschte nervös auf dem Stuhl herum, während ich mir vorstellte, wie meine Urgroßmutter genau dort gesessen hatte, wo ich jetzt gerade saß, und auf eine Hexe wartete, die Kontakt mit ihren toten Töchtern aufnehmen sollte. Dann dachte ich an meine eigenen Besucher aus dem Geisterreich – wenn es denn solche waren –, fröstelte und nippte an meinem Tee, um mich zu wärmen.
»Endlich war es so weit«, fuhr Iris fort. »Martine erschien, in einen Kapuzenumhang gehüllt, an Hannahs Hintertür. Sie hatte einen kleinen Samtbeutel bei sich.
›Bist du ganz sicher, dass außer uns niemand hier ist?‹, fragte sie, dabei blickte sie sich verstohlen im Raum um.
Hannah nickte, aber sie irrte sich. Sie wusste nicht, dass
Weitere Kostenlose Bücher