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Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
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ich ganz in der Nähe war, zusammen mit meiner jüngeren Cousine Jane, die vom Festland zu Besuch gekommen war. Auch meine Mutter war da, und zwar im Waschhaus, das damals noch dort drüben im Garten stand.«
    Ich blickte aus dem Fenster und sah plötzlich den gespenstischen Umriss eines roh gezimmerten Holzhauses. Iris’ Mutter kam mit weißen Laken beladen aus der Tür und steuerte auf die Wäscheleine zu. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Sah ich wirklich, was ich zu sehen glaubte?
    Iris riss mich aus meiner Vision. »Sehen Sie genau hin, Kind! Sehen Sie tief in sich hinein!«
    »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
    »Das werden Sie bald.« Iris lächelte. »Die Visionen werden klarer und deutlicher werden. Bald werde ich Ihnen nur noch das erzählen, was Sie mit Ihren eigenen Augen sehen. Und dann dauert es nicht mehr lange, und Sie brauchen mich überhaupt nicht mehr.«
    »Das ergibt doch keinen Sinn, Iris!«
    »Sie werden schon sehen«, versicherte sie mir, dann fuhr sie mit ihrer Geschichte fort. »Ich vermute, Hannah Hill wurde zu sehr von dem Wunsch beherrscht, mit ihren Töchtern zu sprechen, um an ihre Haushälterin und deren Tochter zu denken. Sie hatte uns vorübergehend vergessen. Meine Cousine und ich spielten am Rand des großen Zedernwaldes, als wir die alte Medizinfrau die Auffahrt hochkommen sahen. Als wir sie erkannten, rannten wir sofort zum Haus zurück, um sie uns genauer anzuschauen. Wir hatten schon viel von Martine, der Hexe des Sommertals, gehört, aber nie gewagt, wie andere Kinder auf die gegenüberliegende Seite der Insel zu laufen und sie heimlich zu beobachten. Und jetzt war sie hier, trat direkt vor unseren Augen durch die hintere Tür.
    Meine Cousine und ich spähten durch das Fenster und sahen zu, wie Martine den Samtbeutel öffnete und ein paar Sachen auf den Küchentisch legte: ein Spitzentuch, Kerzen, getrocknete Kräuter. Dann sagte sie: ›Ich brauche ein persönliches Besitzstück von jedem der Mädchen.‹
    Hannah verließ die Küche und kam kurz darauf mit drei Satinbändern zurück. ›Die haben sie immer als Zopfbänder getragen‹, murmelte sie, dabei drückte sie den Stoff an sich, als handele es sich um heilige Reliquien.«
    Bei diesen Worten stockte mir der Atem. Satinbänder?
    »Martine nickte stumm, legte sie in die Mitte des Tisches und bildete mit den Kerzen einen Ring darum. In die Flamme einer Kerze streute sie irgendein Kraut, das scharlachroten Rauch in die Luft steigen ließ und einen so starken moschusartigen Geruch verbreitete, dass er sogar uns beiden Lauschern vor dem Fenster in die Nasen stieg. Und dann begann Martine in einer Sprache zu sprechen, die ich nicht verstand. Sie wiederholte immer wieder dieselben fremdartig klingenden Worte – wie eine Beschwörung. Sie wirkte, als sei sie in eine Art Trance verfallen, denn sie verdrehte die Augen, bis das Weiße zu sehen war.
    Ich musterte Hannah. Sie saß regungslos wie eine Statue da, kam mir vor wie hypnotisiert. Sie starrte blicklos ins Leere, nahm weder die Medizinfrau noch uns Mädchen hinter dem Fenster wahr.
    Plötzlich spürte ich, wie ich selbst von einem seltsamen Sog ergriffen wurde. Ich versuchte mich zu bewegen, konnte mich aber nicht von der Stelle rühren; ich musste unter dem Fenster verharren und zusehen, wie diese Hexe mittels ihrer Zauberkraft die Geister der Toten herbeirief. Und mit einem Mal verstand ich auch die Worte, die sie sang. Es waren die Namen der Mädchen, die sie immer wieder wiederholte: Persephone, Patience, Penelope. Persephone, Patience, Penelope. Sie beschwor ihre Geister, in diese Welt zurückzukehren.«
    Als Iris die Namen der Mädchen intonierte, war mir, als verwandelte ich mich selbst in das Kind draußen vor dem Fenster, das die gespenstische Szene wie gebannt verfolgte. Durch die leicht getrübte Fensterscheibe sah ich Martines zerfurchtes Gesicht, Hannahs leeren Blick und die Küche, wie sie ein Jahrhundert zuvor ausgesehen hatte. Keine Mikrowelle, kein Kühlschrank aus rostfreiem Stahl. Nur zwei Frauen, die am Küchentisch saßen und auf die Rückkehr dreier toter Töchter warteten.
    »Persephone, Patience, Penelope«, fuhr Iris fort. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer ähnlichen in Trance erstarrten Maske wie damals wohl die Züge von Martine.
    Ich spürte das weiche Haarband an meiner Wange und wollte plötzlich nur noch, dass Iris verstummte. Rief sie etwa gerade selbst diese Mädchen herbei, so wie es die Medizinfrau vor fast einem Jahrhundert getan

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