Insel der Traumpfade Roman
Vorstellungskraft als auch die Fähigkeit hatte, ein Unternehmen zu verwirklichen, und manches, was er heute gehört hatte, hatte sein Interesse geweckt. Ideen stiegen in ihm auf und nahmen Gestalt an – erst durch das Schlagen der Uhr wurde er unterbrochen.
Thomas war jetzt längst überfällig, und George fragte sich, was er weiter machen sollte. Sein steifer Kragen scheuerte an seinem Hals, und er verzog das Gesicht. Da er an die weiche, lockere Kleidung und die Zwanglosigkeit an Bord oder auf einem Pferderücken gewöhnt war, empfand er seinen formellen Aufzug als hinderlich, und jetzt, da sein Freund ihn versetzt hatte, war ihm unbehaglich zumute.
George kämpfte gegen seine Enttäuschung an. Er stand auf, nahm Hut und Stock zur Hand und schaute unschlüssig aus dem Fenster. Was er dort sah, verscheuchte jeden Gedanken an Aufbruch.
Edward starrte am Baron vorbei, während dieser ihm seine Fehler aufzeigte und ihm von neuem die Vernachlässigung seiner Frau und seines Sohnes vorwarf. Nachdem seine Schimpfkanonade beendet war, legte sich Schweigen über sie, und die Zeiger der tickenden Wanduhr gingen auf zwei Uhr zu.
Der Baron ergriff als Erster wieder das Wort. »Du hast gesagt, du möchtest engere Bindungen zu deinem Vater knüpfen. Dann wird es dich freuen zu erfahren, dass er um vier Uhr zum Tee zu uns kommt.«
»Ich habe schon etwas anderes vor.«
»Sag ab«, verlangte der Baron. Mit bohrendem Blick sah er Edward an. »Du wirst daran teilnehmen.«
Edward stand auf und schlug die Tür hinter sich zu. Vor Wut konnte er kaum atmen. Der Einfluss seines Vaters auf den Baron war deutlich, und er ließ sich nicht gern sagen, was er zu tun habe. Und was Eloise betraf, was fiel ihr nur ein, sich bei ihrem Vater auszuheulen?
Georges Knie gaben nach, und er sank auf die Bank in der Fensternische, gefesselt von dem Anblick, der sich ihm bot. Die junge Frau war eine äußerst betörende Erscheinung, wie sie da in der Laube saß, umgeben von Blumen, und er fragte sich, ob sie überhaupt eine Ahnung von ihrer Wirkung hatte. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, während seine Träume plötzlich auf wundersame Weise vor ihm Wirklichkeit wurden. Ihre Schultern schimmerten hell, ihre Taille war schmal, ihr goldblondes Haar drang unter dem reizenden Hut hervor und liebkoste ihre Haut. In den schmalen Händen hielt sie ein dünnes, in Leder gebundenes Buch, dessen Seiten mit einer Hibiskusblüte beschwert waren. Sie war vollkommen, und George wusste in jenem Augenblick, dass er nie eine andere lieben würde. Von dem Wildfang, der im Mondlicht über den Rasen getanzt war, merkte man ihr jetzt nichts mehr an, doch auch diese ruhigere Seite an ihr reizte ihn: sie strahlte Selbstsicherheit aus und verriet, dass sie sich auch ohne Gesellschaft wohl fühlte.
Seinen prüfenden Blick schien sie nicht zu bemerken, offensichtlich war sie in ihr Buch vertieft. Sie war recht groß und wirkte in dem blassgrünen Teekleid elegant. Ihr Dekolleté war makellos, und das grüne Band um ihren Hals betonte seine schlanke Rundung.
Mühsam riss er sich zusammen und beschloss, sich auf die Suche nach jemandem zu begeben, der sie miteinander bekannt machte, als sie den Kopf hob und ihre Blicke sich begegneten. George erstarrte. Ihre Augen leuchteten wie Smaragde in ihrem herzförmigen Gesicht. Er errötete, weil sie ihn dabei erwischt hatte, wie er sie beobachtete, und ein belustigtes Schmunzeln trat auf ihr Gesicht. Reizende Grübchen erschienen kurz auf ihren Wangen, bevor sie sich wieder über ihr Buch neigte.
George erhob sich von der Bank und stellte fest, dass er bis auf einen älteren Herrn, der sein Mittagschläfchen hielt, allein im Raum war. Mit einem nächsten Blick aus dem Fenster vergewisserte er sich, dass die Fremde noch da war, doch der Gedanke, sie könnte im nächsten Moment verschwunden sein, ohne dass sie sich kennengelernt hatten, war kaum zu ertragen. Wenn doch nur Thomas hier wäre! George war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch zu warten, bis man sie einander formgerecht vorstellte, und der verlockenden Versuchung, alle Konventionen über Bord zu werfen und einfach zu ihr zu gehen.
Eloise klappte ihr Buch zu. Für gewöhnlich beruhigten sie Shakespeares Sonette, doch heute lagen ihre Nerven blank und sie ließ sich leicht ablenken. Sie schaute noch einmal zum Fenster des Arbeitszimmers auf und runzelte die Stirn. Edward und ihr Vater waren schon lange dort, aber wenigstens hatten sie aufgehört zu schreien.
Im
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