Insel der Verlorenen Roman
nie wagen, Vetter James Kummer zu bereiten.«
Richard ging viel länger spazieren, als er betete. Dann kehrte er gerade rechtzeitig ins Cooper’s Arms zurück, um beim Servieren des Abendessens zu helfen. An diesem Abend gab es Gerstensuppe mit runden Speckknödeln und, wie an jedem Tag, Brot, Butter, Käse, Kuchen und Getränke.
Die Aufregung hatte sich gelegt und in der Broad Street war wieder der Alltag eingekehrt. Nur John - oder Samuel - Adams und John Hancock baumelten noch am Schild des Amerikanischen Kaffeehauses. Wahrscheinlich, dachte Richard, bleiben sie dort hängen, bis Wind und Wetter die Füllung in alle Richtungen verstreut
haben und nur noch ein paar verschlissene Lumpen von ihnen übrig sind.
Er nickte im Vorbeigehen seinem Vater zu und stieg die Treppe hinauf, zur hinteren Hälfte des ersten Stocks, die sein Vater in der üblichen Weise abgetrennt hatte - mit ein paar groben Brettern, die vom Boden bis knapp unter die Decke reichten und nicht fest verzapft waren wie die Planken eines Schiffes, sondern nur hier und da durch eine Strebe notdürftig zusammengehalten. Die Wand hatte viele Risse, einige davon so breit, dass man bequem hindurchschauen konnte. Dieser Mangel an Privatsphäre machte Richard oder Peg allerdings nichts aus. Selbst in den vornehmen Häusern der Ratsherren und reichen Kaufleute waren die Zwischenwände keineswegs besser gebaut. Benötigte man dort für einen Empfang oder Ball einen großen Raum, wurden sie einfach für einen Nachmittag oder Abend entfernt, um am nächsten Tag auf die gleiche provisorische Art wieder angebracht zu werden.
In Richards und Pegs rückwärtiger Hälfte der Etage standen ein schönes Doppelbett mit dichten Leinenvorhängen, die sich an Schienen zwischen den Bettpfosten ringsherum zuziehen ließen, mehrere Kleiderkommoden, ein Schrank für Schuhe und Stiefel und William Henrys Bettchen. An der Wand hing ein Spiegel, vor dem sich Peg frisieren konnte, daneben waren ein Dutzend Haken angebracht. Die Wände waren nackt, ohne Tapeten zu fünfzehn Schilling den Meter oder Wandteppiche aus Damast, und auch auf den Eichendielen des Bodens, die so alt waren, dass sie sich schon vor zweihundert Jahren schwarz verfärbt hatten, lagen keine Teppiche. Doch der Raum war nicht schlechter eingerichtet als die Zimmer in anderen bürgerlichen Häusern.
Peg stand am Bettchen und schaukelte es sanft hin und her.
»Wie geht es ihm, Schatz?«
Sie sah auf und lächelte. »Die Impfung hat angeschlagen. Er hat ein leichtes Fieber, aber es verzehrt ihn nicht. Vetter James kam vorbei, als du spazieren warst. Er wirkte sehr erleichtert. Er glaubt, dass William Henry sich erholen wird, ohne die richtigen Pocken zu bekommen.«
William Henry schlief auf der rechten Seite, den linken Arm
hatte er über die Brust gelegt, wahrscheinlich weil er ihm wehtat, vermutete Richard. Dort, wo die Nadel durch das Fleisch gedrungen war, war ein großer, roter Striemen zu sehen. Richard hielt die Hand daran und spürte, wie heiß die Stelle war.
»Das geht aber früh los!«, rief er.
»Vetter James sagt, das sei nach einer Impfung oft so.«
Sein Sohn hatte die Impfung überlebt! Richards Knie zitterten vor Erleichterung. Er ging zu einem der Haken an der Wand und griff nach seinem groben Leinenschurz. Er zog sich die Schlinge des Brustlatzes über den Kopf und verknotete die Bändel auf dem Rücken. »Ich muss Vater helfen. Gott sei Dank!« Er dankte Gott immer noch, als er die Treppe hinuntereilte. Dass er Gott schon fast aufgegeben hatte, daran dachte er nicht mehr.
Die langen Sommerabende mit ihrer geselligen Atmosphäre belebten das Geschäft im Cooper’s Arms. Die Stammgäste, darunter vor allem Kaufleute und Handwerker in Begleitung ihrer Frauen und Kinder, verdienten mehr, als sie zum Leben brauchten. Sie bezahlten drei bis vier Pennys pro Person für ein reichhaltiges, schmackhaftes Essen und einen großen Krug Dünnbier. Wer richtiges Bier, Rum, Gin oder Bristol-Milch bevorzugte, einen Sherry, dem vor allem Frauen zusprachen, konnte sich für weitere sechs Pennys gute Laune und die nötige Bettschwere antrinken, um zu Hause sofort ins Bett zu fallen und einzuschlafen. Auf dem Heimweg brauchte er keine Angst vor Straßenräubern und Presspatrouillen zu haben. Die späte Abenddämmerung hielt ihm die dunklen Gestalten vom Leib.
Der Gastraum, in den Richard jetzt hinabstieg, wurde um diese Zeit nicht nur von den Öllampen, sondern auch noch von der tief im Westen
Weitere Kostenlose Bücher